Wilsberg 17 - Wilsberg und die dritte Generation
wären Sie vielleicht nicht hier. Übrigens habe ich darüber auch mit Felizia Sanddorn geredet.«
Jetzt war ich ehrlich erstaunt. »Wann?«
»Vor einigen Wochen. Wie alle, die es gut mit ihr meinten, habe ich ihr geraten, vorsichtig zu sein. Leider hat sie nicht darauf gehört.«
»Sie haben nicht zufällig eine Ahnung, wo sie sich aufhält?«
Niemeyer zögerte einen Moment zu lang. »Nein.«
Sie ging zu dem Tisch, der in der Mitte des Raumes am Boden festgeschraubt war, und zog einen Stuhl zurück. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie erzählen mir, was Sie denken, und ich sagen Ihnen, was ich davon halte.«
Ich setzte mich ihr gegenüber. »So was wie Deep Throat bei der Watergate-Affäre, nur ohne Parkhaus und Pfeiler?«
»Nicht ganz. Ich rede nicht über laufende Ermittlungen.«
»Was bleibt dann noch?«, fragte ich höhnisch.
Sie blieb gelassen. »Fakten, die man unterschiedlich interpretieren kann.«
»Zum Beispiel, dass so gut wie nichts über die dritte Generation der RAF bekannt ist, nicht einmal, wer dazugehörte?«
»Ganz so ist es nicht«, sagte Niemeyer. »Am Ende gab es fünf Personen, die das Bundeskriminalamt zur dritten Generation der RAF zählte: Wolfgang Grams, Birgit Hogefeld, Ernst-Volker Staub, Daniela Klette und Burkhard Garweg. Hogefeld wurde in Bad Kleinen verhaftet, Grams erschossen. Nach den anderen dreien wird gefahndet.«
»Mehr nicht?«, fragte ich amüsiert. »Fünf Leute waren ein Jahrzehnt lang der Staatsfeind Nummer eins, die größte Bedrohung der Bundesrepublik Deutschland, gesucht von Hunderten von Verfassungsschützern und Kriminalbeamten?«
»Hinzu kommt eine unbekannte Größe x«, gab Niemeyer zu. »Das Bundesamt für Verfassungsschutz ging von fünfzehn bis zwanzig Personen auf der Kommandoebene aus, die Bundesanwaltschaft von eher weniger. Ob Thomas Berning dazugehörte, muss sich noch herausstellen. Richtig ist allerdings, dass von den zweiundzwanzig bekannten Gewalttaten, die der dritten Generation zugeschrieben werden, nur zwei als geklärt gelten. Ungeklärt ist bis heute, wer 1985 den MTU-Vorstandsvorsitzenden Ernst Zimmermann erschossen hat, wer für den Mord an dem US-Soldaten Pimental und den darauf folgenden Anschlag auf dem Parkplatz der US-Airbase in Frankfurt verantwortlich ist, wer 1986 das Siemens-Vorstandsmitglied Karl Heinz Beckurts und seinen Fahrer in der Nähe von München in die Luft sprengte, wer Gerold von Braunmühl erschoss, als er vor seiner Wohnung aus einem Taxi stieg, wer 1989 die Sprengstofffalle legte, bei der Alfred Herrhausen, der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, zu Tode kam, und wer der Scharfschütze war, der 1991 den Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder in seinem Arbeitszimmer in Düsseldorf erschossen hat. Ungeklärt ist ebenso, wer 1988 den Finanzstaatssekretär Tietmeyer auf dem Weg zur Arbeit erschießen wollte und wer 1991 versucht hat, den Innenstaatssekretär Neusel kurz vor dem Bundesinnenministerium in die Luft zu bomben. Von den zehn Morden, die auf das Konto der dritten Generation gehen, ist nur ein einziger vollständig aufgeklärt.«
»Und welcher ist das?«, fragte ich.
»Der Mord an dem GSG-9-Kommissar Newrzella in Bad Kleinen.«
»Ein gut ausgebildeter GSG-9-Mann, der Grams verfolgt hat, ohne seine Waffe zu ziehen.«
»Wollen Sie ihm das vorwerfen?« Niemeyer zog ihre Stirn in Falten. »Möglicherweise hat dieser Fehler den Mann das Leben gekostet.«
»Nein, das will ich nicht«, sagte ich. »Ich will auch nicht davon anfangen, dass es bis heute Leute gibt, die behaupten, Wolfgang Grams sei auf den Gleisen erschossen worden …«
»Was von mehreren Gerichten widerlegt wurde.«
»Oder dass es keinen Notarzt vor Ort gab, obwohl der Zugriff lange vorher geplant war. Dass zwei BKA-Beamte am Abend des Tattages einen Arzt der Medizinischen Universität Lübeck anwiesen, das Gesicht und die Finger der rechten Hand von Grams zu reinigen, wodurch wichtige Spuren unwiederbringlich verloren gingen. Dass Birgit Hogefeld bei ihrer Festnahme nicht durchsucht wurde und noch eine halbe Stunde später eine geladene Browning in ihrem Holster am Hosenbund steckte.«
»Es hat eine Menge Fehler gegeben«, sagte Niemeyer. »Das hat der Bericht der Bundesregierung festgestellt. Deshalb sind etliche Leute zurückgetreten, entlassen oder versetzt worden.«
»Und was ist mit dem Pärchen?«, fragte ich.
»Was meinen Sie?«
»Ich habe gelesen, dass auf den Aufnahmen, die in Bad Kleinen gemacht wurden, ein Pärchen zu
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