Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wimsey 04 - Der Mann mit dem Kuperfingern

Wimsey 04 - Der Mann mit dem Kuperfingern

Titel: Wimsey 04 - Der Mann mit dem Kuperfingern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
Vom Netzwerk:
Unwirklichkeit eines Ortes zu, den man wiederzuerkennen glaubt, ohne ihn je gesehen zu haben. Es erging ihm wie jemandem, der zum erstenmal den Schiefen Turm von Pisa sieht – er ist seinem Bild viel zu ähnlich, als daß er einem glaubhaft vorkommen möchte. Wimsey glaubte fest, diese längliche Insel rechts zu kennen, die geformt war wie ein geflügeltes Ungeheuer mit seinen beiden kleinen Gebäudegrüppchen. Und die Insel links davon – wie die Britischen Inseln, nur recht verzerrt. Und die dritte Insel zwischen den beiden andern und etwas weiter vorn. Sie bildeten zusammen ein Dreieck mit dem chinesischen Springbrunnen in der Mitte, auf dessen Drachenhaupt unablässig der Mond schien. « Hic in capite draconis ardet perpetuo – »
    Lord Peter sprang mit einem lauten Ausruf auf und riß die Tür zum Ankleidezimmer auf. Eine kleine Gestalt, in eine Daunendecke gehüllt, richtete sich von der Fensterbank auf.
    «Entschuldige, Onkel Peter», sagte Gherkins. «Ich war so schrecklich wach , daß es gar keinen Zweck hatte, im Bett liegenzubleiben.»
    «Komm mal her», sagte Lord Peter, «und sag mir, ob ich verrückt bin oder träume. Schau mal aus dem Fenster und vergleiche das, was du siehst, mit der Karte – Cuthbert Conyers’ Karte von den ‹Neuen Inseln›. Sie sind nämlich von ihm, Gherkins; er hat sie dort angelegt. Liegen sie nicht genau wie die Kanarischen Inseln? Diese drei Inseln im Dreieck und die vierte hier vorn in der Ecke? Und das Bootshaus genau dort, wo auf dem Bild das große Schiff ist. Und der Drachenspringbrunnen genau da, wo der Drachenkopf ist. Dort liegt der verborgene Schatz, mein Sohn! Zieh dich an, Gherkins, und pfeif darauf, daß alle braven Jungen um diese Zeit ins Bett gehören! Wir machen eine Ruderpartie auf dem See, falls es in diesem Bootshaus noch einen Kahn gibt, der sich über Wasser halten kann.»
    «Mensch, Onkel Peter! Das ist ja ein richtiges Abenteuer!» «Und was für eins», sagte Wimsey. «Fünfzehn Mann auf des toten Manns Kiste und so weiter! Ho-ho-ho, und ’ne Buddel mit Johnnie Walker! Piratenmannschaft zum mitternächtlichen Auslaufen bereit, um versteckten Schatz zu suchen und die Glücklichen Inseln zu erforschen! Alle Mann an Bord!»
    Lord Peter machte den lecken Kahn am knotigen Schwanz des Drachens fest und stieg vorsichtig aus, denn der Fontänensockel war grün und glitschig.
    «Deine Aufgabe wird es leider sein, im Kahn zu bleiben und Wasser zu schöpfen, Gherkins», sagte er. «Alle guten Kapitäne deichseln es immer so, daß sie die wirklich interessanten Arbeiten selbst machen. Wir fangen am besten mit dem Kopf an. Wenn der alte Seeräuber ‹Haupt› sagte, dann meinte er wahrscheinlich auch ‹Haupt›.» Er legte, um sich festzuhalten, zärtlich den Arm um den Hals des Monstrums, während er methodisch an den verschiedenen Knoten und Köpfen seiner Anatomie herumdrückte und -zog. «Scheint alles teuflisch fest zu sein, aber irgendwo ist garantiert eine Feder. Du vergißt ja nicht zu schöpfen, nein? Ich fände es einfach häßlich, wenn ich mich mal umdrehte und das Boot wäre weg. Piratenhäuptling auf einsamer Insel ausgesetzt und so weiter. Also, am Hinterkopf ist schon mal nichts. Probieren wir die Augen. Weißt du was, Gherkins, ich bin felsenfest überzeugt, daß sich da was bewegt hat, es ist nur alles furchtbar festgerostet. Wir hätten daran denken können, ein bißchen Öl mitzubringen. Macht aber nichts. Sturheit siegt. Sieh da, es kommt. Es kommt. Ha! Brrrr!»
    Mit letzter Kraftanstrengung hatte er den eingerosteten Knopf nach innen gedrückt, und aus dem weit geöffneten Schlund des Drachens jagte ihm eine Wasserfontäne ins Gesicht. Der Springbrunnen, seit vielen Jahren trocken, schoß jubilierend himmelwärts, durchnäßte die Schatzsucher und malte einen Regenbogen ins Mondlicht.
    «Das fand der alte Halsabschneider wohl witzig», maulte Wimsey, indem er sich vorsichtig um den Hals des Ungeheuers herum zurückzog. «Und jetzt krieg ich das nicht wieder aus. Na ja, probieren wir mal das andere Auge.»
    Ein paar Sekunden drückte er vergebens daran herum. Dann klappten mit einem knirschenden Scheppern die bronzenen Flügel des Ungeheuers zu den Seiten hinunter und gaben ein tiefes, viereckiges Loch frei, und die Fontäne hörte auf zu spritzen.
    «Gherkins», sagte Lord Peter, «wir haben es geschafft. – Aber deswegen brauchst du nicht gleich das Schöpfen zu vergessen! – Hier drin ist eine Kiste. Und sie ist verteufelt schwer.

Weitere Kostenlose Bücher