Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde
Mann nach zwei Uhr ermordet worden wäre, hätte Miss Vane den Mörder gesehen. Sie hat den Mörder aber nicht gesehen, also war es Selbstmord. Der Beweis für den Selbstmord steht und fällt in der Tat mit Miss Vanes Aussage, die beweist, daß der Mann nach zwei Uhr gestorben ist. Oder nicht?«
Mr. Weldon mußte sich mit dieser überraschenden Logik erst einmal ein paar Augenblicke auseinandersetzen, aber er bemerkte ebensowenig die petitio elenchi wie das unechte Mittelglied und die zweifelhafte Hauptprämisse des Syllogismus. Seine Miene hellte sich auf.
»Natürlich«, sagte er. »Ja. Das verstehe ich. Es muß offenbar Selbstmord gewesen sein, und Miss Vanes Aussage beweist, daß es einer war. Dann muß sie also doch recht haben.«
Das ist ein noch schlimmeres Monstrum von Syllogismus als das vorige, dachte Wimsey. Wer so argumentiert, der kann überhaupt nicht argumentieren. Er konstruierte einen neuen Syllogismus für den eigenen Gebrauch:
Der Mann, der diesen Mord begangen hat, ist nicht dumm.
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Das Zeugnis des Mannequins
Mein guter Melchior, ein jeder ehrenhafte Mann, Wie Ihr – denn dafür halt’ ich Euch, bei meinem Leben – Wird ebenfalls Euch glauben.
TORRISMOND
SAMSTAG, 27. JUNI/SONNTAG, 28. JUNI
Harriet Vane fühlte sich in den vier Wänden des verstorbenen Paul Alexis durchaus wohl. Ein höflicher Brief von ihrem literarischen Agenten, der fragte, ob »das neue Buch wohl im Herbst publikationsreif« sein werde, hatte sie wieder an das Problem mit der Rathausuhr gejagt, aber sie ertappte sich dabei, daß sie ihm nicht ihre ungeteilte Aufmerksamkeit widmete. Gegen die wirklich merkwürdigen Verwicklungen des Falles Alexis erschien die eigene Handlung ihr mager und allzu durchsichtig, und der affenähnliche Robert Templeton legte mehr und mehr die ärgerliche Neigung an den Tag, wie Lord Peter Wimsey zu reden. Immer wieder schob Harriet die Arbeit beiseite – zum »Setzen« (als ob es Kaffee wäre). Wenn Schriftsteller beim Ausfeilen einer Handlung auf solche Schwierigkeiten stoßen, überlassen sie das Problem gern in dieser Weise dem klärenden Wirken des Unterbewußtseins. Aber dummerweise hatte Harriets Unterbewußtsein anderes zu klären und weigerte sich entschieden, sich mit der Rathausuhr auseinanderzusetzen. Unter solchen Gegebenheiten ist es eingestandenermaßen sinnlos, das Bewußtsein zu bitten, Weiteres zu unternehmen. Und so saß Harriet, wenn sie eigentlich schreiben sollte, bequem in einem Sessel und las in einem von Paul Alexis’ Büchern, natürlich nur, um ihr Unterbewußtsein frei zu machen für die Arbeit, die ihm zugedacht war. Auf diese Weise verleibte sie ihrem Bewußtsein die verschiedensten Informationen über den russischen Zarenhof und noch mehr romantische Prosa über Liebe und Krieg in ruritanischen Staaten ein. Paul Alexis hatte offenbar einen fest begrenzten literarischen Geschmack gehabt. Er liebte Geschichten über junge Männer von geschmeidiger und berükkender Schönheit, die sich, unter widrigsten Umständen aufgewachsen und zu Rittern ohne Fehl und Tadel erblüht, plötzlich als Erbschaftsanwärter auf Königsthrone entpuppten und im letzten Kapitel an der Spitze einer ergebenen Gefolgschaft die Intrigen finsterer Präsidenten zerschlugen, um sich dann in blauen Uniformen mit silbernen Tressen auf Balkonen zu zeigen und die begeisterten Huldigungen ihrer befreiten Untertanen entgegenzunehmen. Manchmal hatten sie dabei die Unterstützung einer ebenso tapferen wie schönen englischen oder amerikanischen Millionenerbin, die ihr ganzes Vermögen der Partei der Königstreuen zur Verfügung stellte; manchmal blieben sie trotz fremdländischer Versuchung der Braut aus dem eigenen Volke treu und retteten sie im allerletzten Augenblick vor einer erzwungenen Ehe mit dem zwielichtigen Präsidenten oder einem seiner noch zwielichtigeren Berater; hin und wieder halfen ihnen auch junge Engländer oder Iren oder Amerikaner mit edlen Profilen und viel überschüssiger Energie, und in allen Fällen bestanden sie die haarsträubendsten Abenteuer zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Niemand außer dem finsteren Präsidenten kam je auf die profane Idee, Geld über die üblichen Kanäle aufzutreiben oder gar ein politisches Ränkespiel zu treiben, und nie hatten die europäischen Großmächte oder der Völkerbund bei alledem ein Wörtchen mitzureden. Aufstieg und Fall von Regierungen schienen eine reine Privatsache zu sein und spielten sich bequemerweise stets in
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