Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde
nichts. Er war gesehen worden, und jetzt kam es mehr denn je darauf an, daß er außer Sicht blieb. Ein paar bange Sekunden lang wartete er, bevor er Bright folgte, dann sah er ihn gerade noch die Treppe zur U-Bahn-Station hinuntergehen.
In diesem Augenblick hätte Bunter alles für seine getreue Melone gegeben. Er tat sein Möglichstes, indem er die Mütze wieder gegen den Hut tauschte und, während er über den Vorplatz rannte, in den dunklen Mantel schlüpfte. Es ist nicht nötig, die nun folgende lange Verfolgungsjagd durch das Londoner U-Bahn-Netz zu schildern, die eine ganze Stunde ausfüllte. Nach dieser Stunde traten Hase und Hund, nachdem sie in der Zwischenzeit die ganze Windrose umfahren hatten, in geziemender Reihenfolge auf den Piccadilly Circus hinaus. Die nächste Station war das Corner House, wo Bright den Aufzug nahm.
Nun hat das Corner House drei große Etagen, und jede von ihnen hat zwei Türen. Mit Bright in denselben Aufzug zu steigen, hätte jedoch bedeutet, die Katastrophe herauszufordern. Wie eine verdutzte Katze, die ihre Maus im Loch verschwinden sieht, stand Bunter da und sah dem nach oben fahrenden Aufzug nach. Dann ging er an die mittlere Theke und tat so, als betrachtete er die dort ausgelegten Kuchen und Süßigkeiten, während er in Wirklichkeit sämtliche Aufzugtüren und die beiden marmornen Treppen scharf im Auge behielt. Nach zehn Minuten glaubte er nun wirklich davon ausgehen zu können, daß Bright nur etwas zu sich nehmen wollte. Er ging auf die nächstgelegene Treppe zu und sauste hinauf wie der Blitz. Der Aufzug begegnete ihm auf einer Abwärtsfahrt, noch ehe er das erste Stockwerk erreicht hatte, und plötzlich befiel ihn die schreckliche Überzeugung, daß er Bright mit sich forttrug. Tat nichts, die Würfel waren gefallen. Er stieß die Schwingtür im ersten Stock auf und schlenderte langsam zwischen den vollbesetzten Tischen umher.
Der Anblick von Gästen, die verzagt nach einem Platz Ausschau halten, ist im Corner House nichts Ungewöhnliches. Niemand beachtete Bunter, bis er die Runde durch den großen Saal gemacht und sich überzeugt hatte, daß Bright nicht unter den Anwesenden war. Er ging durch die andere Tür hinaus, wo man ihn mit der Frage aufhielt, ob er bedient worden sei. Er antwortete, er suche nur einen Bekannten, und lief in den zweiten Stock hinauf.
Der obere Saal war das genaue Gegenstück des unteren, nur daß hier anstelle eines männlichen Orchesters im Abendanzug, das Mein Papagei hat Ringe unter den Augen spielte, eine Damenkapelle in Blau Melodien aus Die Gondolieri zum besten gab. Bunter schob sich durch das Gedränge, bis er – sein sonst so ruhiges Herz machte einen Hüpfer unter der geschmacklosen blauen Weste – plötzlich eines wohlvertrauten rötlichen Haarschopfs über einem leicht verwachsenen Schulterpaar ansichtig wurde. Bright war da. Er saß mit drei älteren Frauen zusammen an einem Tisch und verzehrte friedlich ein Grillkotelett.
Bunter blickte verzweifelt um sich. Zuerst schien es ganz und gar hoffnungslos zu sein, irgendwo in der Nähe einen Platz finden zu wollen, aber schließlich erspähte er ein junges Mädchen, das soeben sein Make-up erneuerte und an seiner Frisur herumdrückte, um zu gehen. Er hechtete an den Tisch und sicherte sich den freiwerdenden Stuhl. Es dauerte einige Zeit, bis er der Kellnerin habhaft wurde, um einen Kaffee bestellen zu können; aber zum Glück schien Bright es mit dem Essen nicht eilig zu haben. Bunter bat sofort um die Rechnung, als der Kaffee kam, und saß dann geduldig da, die nützliche Zeitung vor dem Gesicht auseinandergefaltet.
Nach einer Zeit, die ihm endlos vorkam, hatte Bright endlich fertig gegessen, sah auf die Uhr, rief nach der Rechnung und erhob sich. Bunter war an der Kasse der vierte hinter ihm, und als er sich durch die Tür drängte, sah er den rötlichen Kopf gerade noch die Treppe hinuntergehen. In diesem glücklichen Augenblick kam gerade der Aufzug. Bunter sprang hinein und wurde lange vor seiner Beute im Erdgeschoß in die Freiheit entlassen. Er sah Bright hinausgehen, nahm die Verfolgung auf und fand sich nach ein paar Minuten hektischer Jagd durch das Verkehrsgewühl in einem Kino am Haymarket wieder, wo er ein Billett für Sperrsitz löste.
Bright setzte sich auf einen Platz in der dritten Reihe der nächstbilligeren Plätze. Bunter flüsterte der Platzanweiserin rasch zu, daß er doch nicht so weit vorn sitzen möchte, und setzte sich ein paar Reihen hinter ihn.
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