Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde
Jetzt durfte er wieder aufatmen. Von seinem Platz aus konnte er Brights Kopf als Silhouette vor dem relativ hellen Hintergrund des unteren Teils der Leinwand sehen. Bunter ignorierte das Drama von Liebe und Leidenschaft, das vom ersten Mißverständnis bis zum letzten langen Kuß dort oben seinen mechanischen Ablauf nahm, und konzentrierte statt dessen seinen Blick so sehr auf den Kopf, daß ihm davon Tränen über die Wangen liefen.
Der Film flimmerte zu Ende. Das Licht ging an. Bright stand plötzlich auf und drängte sich auf den Gang. Bunter wollte ihm schon folgen, aber statt dem nächsten Ausgang zuzustreben, überquerte Bright nur den Gang und verschwand hinter einem diskreten Vorhang, über dem in blauer Leuchtschrift das Wort »Herren« prangte.
Bunter sank auf seinen Platz zurück und wartete. Andere Herren gingen aus und ein, aber kein Bright kam heraus. Angst befiel Bunter. Konnte man dieses Kino durch die Toilette verlassen? Die Lichter verloschen langsam, es wurde dunkel, und ein Zeichentrickfilm begann. Bunter stand auf, stolperte über die Füße dreier kichernder Mädchen und eines verärgerten alten Mannes und begab sich gemessen den Gang hinunter.
In dem Moment wurde der Vorhang zu »Herren« zur Seite gezogen, und ein Mann kam heraus. Bunter sah ihn sich im Vorbeigehen so genau an, wie es im Dämmerlicht möglich war, aber das spitze Profil sagte ihm, daß dieser Mann einen Bart trug. Er ging mit einer gemurmelten Entschuldigung an Bunter vorbei und weiter den Gang hinauf. Bunter setzte seinen Weg nach unten fort, aber einem Instinkt gehorchend, drehte er sich vor dem Vorhang noch einmal um und sah zurück.
Er sah den Rücken des Bärtigen deutlich umrissen vor dem plötzlichen Blau des Tageslichts und erinnerte sich, wie Wimsey einmal zu ihm gesagt hatte: »Jeder Narr kann sein Gesicht verändern, aber seinen Rücken verändert nur ein Genie.« Er war diesem Rücken nicht fünf Tage lang durch London gefolgt, ohne seine Umrisse genauestens zu kennen. Im nächsten Moment eilte er bereits den Gang hinauf und war schon draußen. Ob mit Bart oder ohne – das war sein Mann.
Wieder begann das Spiel mit den zwei Taxis, das diesmal ohne Umwege direkt nach Kensington führte. Bright schien jetzt wirklich zu einem bestimmten Ziel zu wollen. Sein Taxi hielt vor einem ordentlichen Haus in einem guten Viertel; er stieg aus und schloß sich selbst die Tür auf. Bunter fuhr bis zur nächsten Ecke weiter und fragte dann seinen Fahrer:
»Haben Sie die Hausnummer gesehen, wo sie angehalten haben?«
»Ja, Sir. Nummer 17.«
»Danke.«
»Scheidung, Sir?« fragte der Fahrer grinsend.
»Mord«, sagte Bunter.
»Mannomann!« Dies schien die natürliche Reaktion auf Mord zu sein. »Na ja«, sagte der Taxifahrer. »Hoffentlich baumelt er dafür«, und damit fuhr er weiter.
Bunter sah sich um. Er wagte nicht, an Nummer 17 vorbeizugehen. Bright konnte noch auf der Lauer liegen, und sowohl Schottenmütze wie Schlapphut betrachtete Bunter inzwischen als altgediente Veteranen, von denen hinsichtlich Verkleidungseffekt nicht mehr viel zu verlangen war. Er sah eine Apotheke und ging hinein.
»Können Sie mir sagen«, begann er, »wer hier in Nummer 17 wohnt?«
»Aber ja«, sagte der Apotheker. »Ein Herr namens Morecambe.«
»Morecambe?« In Bunters Kopf schien ein großes Stück eines Puzzlespiels mit fast hörbarem Klikken an seinen Platz zu fallen. »Ein nicht sehr großer Mann, der eine Schulter ein wenig höher trägt als die andere?«
»Stimmt.«
»Rötliches Haar?«
»Ja, Sir; rötliches Haar und Bart.«
»Oh, er trägt einen Bart?«
»O ja, Sir. Geht irgendwelchen Geschäften in der City nach. Wohnt hier schon, solange ich zurückdenken kann. Ein sehr angenehmer Herr. Sie interessieren sich für ihn –?«
»Ja«, sagte Bunter. »Das ist so, ich habe gehört, daß da eine Stelle für einen Diener frei sein könnte, und da wollte ich gern einmal wissen, was das für eine Familie ist, bevor ich mich bewerbe.«
»Aha. Ja. Sie werden die Familie recht nett finden. Still. Keine Kinder. Mrs. Morecambe ist eine hübsche Frau. Das heißt, sie muß in jüngeren Jahren sehr gut ausgesehen haben. War Schauspielerin, soweit ich weiß, aber das muß schon ziemlich lange her sein. Sie haben zwei Mädchen, und alles ist so, wie Sie sich’s nur wünschen können.«
Bunter bedankte sich und verließ die Apotheke, um ein Telegramm an Lord Peter zu schicken.
Die Jagd war beendet.
31
----
Das Zeugnis des
Weitere Kostenlose Bücher