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Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde

Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde

Titel: Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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waren auf schlank gemacht, nicht durch unbarmherziges Schnüren, sondern durch teuerste Schneiderkunst. Morgen früh auf dem Tennisplatz würden dieselben Taillen in kurzen, locker fallenden Kleidchen sich als die Taillen muskulöser junger Frauen von heute präsentieren, die sich über alle Schranken hinwegsetzten. Und die Seitenblicke, die niedergeschlagenen Augen, die gespielte Züchtigkeit – alles nur Maske. Wenn das die von den Modejournalen propagierte »Rückkehr zur Fraulichkeit« war, dann handelte es sich um eine völlig andere Art von Fraulichkeit – Fraulichkeit auf der Grundlage wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Waren die Männer wirklich dumm genug, zu glauben, daß die gute alte Zeit weiblicher Unterordnung durch Miedermoden zurückzuholen sei? »Wohl kaum«, dachte Harriet, »solange sie ganz genau wissen, daß man Schleppe und Bausch nur abzulegen, einen kurzen Rock anzuziehen und wegzugehen braucht, weil man seinen Beruf und sein eigenes Geld hat. Also bitte. Es ist nur ein Spiel, und wahrscheinlich kennen alle die Regeln.«
    Der Walzer klang aus, die Tänzer vollführten eine letzte, schwungvolle Drehung und blieben stehen. Die Musiker stimmten unter dem Schirm des spärlichen Beifalls ihre Instrumente und blätterten ihre Noten um. Dann forderte der Tänzer eine Dame von einem der Tische auf Harriets Seite auf, während auf der gegenüberliegenden Seite die violett gekleidete Frau einem beleibten Fabrikanten in Tweedjacke die Ehre gab. Eine zweite Frau, eine Blondine in einem blaßblauen Kleid, erhob sich von ihrem einsamen Tisch am Podium und führte einen älteren Herrn aufs Parkett. Andere Gäste mit eigenen Partnern begannen sich zu den Takten eines neuen Walzers zu drehen. Harriet winkte dem Kellner und ließ sich noch einen Kaffee bringen.
    Der Mann, dachte sie, gibt sich gern der Illusion hin, daß die Frau von seiner Gunst und Gnade abhängig sei und ihr ganzes Leben sich nur um ihn drehe. Aber liebt er auch die Wirklichkeit? Nein, dachte Harriet verbittert; nicht, wenn der Schmelz der Jugend erst dahin ist. Die junge Frau, die da drüben so mit den vermögend aussehenden Herren kokettiert, wird einmal ebenso enden wie diese Raubwachtel am Tisch nebenan, sofern sie nichts findet, womit sie ihren Geist beschäftigen kann – vorausgesetzt, sie hat welchen. Und dann sagen die Männer, sie macht ihnen Angst.
    Die »Raubwachtel« war eine magere, jämmerlich aufgetakelte Frau, mit deren übertrieben modischer Kleidung eine Siebzehnjährige ihre Schwierigkeiten gehabt hätte. Sie war Harriet schon vorhin durch ihren strahlenden, fast bräutlich beglückten Blick aufgefallen. Sie war allein, schien aber jemanden zu erwarten, denn ihre Augen schweiften unablässig durch den Raum, wobei sie sich hauptsächlich auf den Tisch der Eintänzer neben dem Podium konzentrierten. Jetzt schien sie nervös zu werden. Ihre beringten Hände zuckten fahrig; sie zündete sich eine Zigarette nach der andern an, nur um sie halb geraucht wieder auszudrücken, den Spiegel aus der Handtasche zu reißen, ihr Make-up zu erneuern, wieder nervös zu zucken und das ganze Ritual mit einer neuen Zigarette von vorn zu beginnen.
    »Sie wartet auf ihren Gigolo«, konstatierte Harriet mitleidig und abgestoßen zugleich. »Wahrscheinlich auf den Kerl mit dem Froschmaul. Aber der scheint angenehmere Beschäftigung zu haben.«
    Der Kellner brachte den Kaffee, und die Frau am Nebentisch fing ihn auf dem Rückweg ab.
    »Ist Mr. Alexis heute abend nicht hier?«
    »Nein, Madam.« Der Kellner blickte ein wenig unruhig. »Nein, er ist heute leider verhindert.«
    »Ist er krank?«
    »Ich glaube nicht, Madam. Der Direktor hat nur gesagt, daß er heute nicht kommt.«
    »Hat er keine Nachricht geschickt?«
    »Das weiß ich nicht, Madam.« Der Kellner trat nervös von einem Fuß auf den andern. »Mr. Antoine wäre zweifellos glücklich …«
    »Ach nein, danke. Ich bin an Mr. Alexis gewöhnt. Wir harmonieren gut zusammen. Es macht nichts.«
    »Sehr wohl, Madam. Vielen Dank.«
    Der Kellner enteilte. Harriet sah ihn ein paar Worte und ein Achselzucken mit dem Oberkellner wechseln. Lippen und Augenbrauen sprachen Bände. Harriet ärgerte sich. Mußte es so weit mit einem kommen, wenn man nicht heiratete? Daß man sich zum Gespött der Kellner machte? Sie warf noch einen Blick zu der Frau hinüber, die sich eben erhob, um zu gehen. Sie trug einen Ehering. Anscheinend konnte einen auch die Ehe nicht retten. Ledig, verheiratet, verwitwet,

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