Wimsey 08- Zur fraglichen Stunde
königliches Blut gekostet hat, nimmt sie sich vor, sich in das Haus Bourbon einzuschleichen. Allzu viele legitime Prinzen gibt es nicht für ihre Tochter, also sagt sie sich, die falsche Bettseite ist immer noch besser, als draußen in der Kälte zu stehen, und verheiratet das Mädchen mit einem kleinen Malheur von Louis-Philippe.«
»Das muß ja eine feine Gesellschaft gewesen sein damals.«
»Na ja, so so. Ich möchte annehmen, Charlotte hat vielleicht wirklich geglaubt, mit Nikolaus verheiratet zu sein, und war dann furchtbar enttäuscht, als man ihr die Ansprüche streitig machte. Sie war ihnen wohl nicht ganz gewachsen – Nikolaus und seinen Diplomaten. Gerade als sie glaubte, ihren Fisch so schön an der Angel zu haben, die welkende Schönheit, die mit ihrem Witz und Charme noch schnell den größten Coup ihres Lebens landet – sich zur Kaiserin macht. Frankreich war in Aufruhr, das Kaiserreich zerschlagen, und die auf des Adlers Schwingen an die Macht gestiegen waren, stürzten mit in seinem Sturz – wer konnte wissen, was mit der intriganten Witwe eines napoleonischen Grafen oder Generals geschehen würde? Aber Rußland! Der Doppeladler hatte noch seine sämtlichen Krallen –«
»Wie Sie reden!« unterbrach Miss Garland ihn ungeduldig. »Mir kommt das kein bißchen glaubhaft vor. Wenn Sie mich fragen, ich bin überzeugt, daß Paul das alles aus diesen Büchern erfunden hat, die er so liebte.«
»Sehr wahrscheinlich«, räumte Wimsey ein. »Ich meine ja auch nur, daß es eine gute Geschichte ist. Farbig, lebendig, mit viel Folklore und Rührseligkeit. Und aus historischer Sicht ist es nicht einmal so unmöglich. Sind Sie ganz sicher, daß Sie das alles schon im November gehört haben?«
»Na klar bin ich da sicher.«
»Meine Achtung vor Paul Alexis’ Erfindungsgabe steigt. Er hätte Romane schreiben sollen. Aber trotzdem, gehen wir das alles mal durch. Charlotte hält an ihrer Idee von morganatischer Heirat und Kaiserthron fest und verheiratet ihre Tochter Nicole mit Gaston, diesem Bourbonenjüngling. Daran ist nichts Unwahrscheinliches. Im Alter würde er etwa zwischen dem Fürsten de Joinville und dem Herzog d’Aumale kommen, und es gibt keinen Grund, warum das nicht so sein sollte. Was wird nun aus Nicole? Sie bekommt eine Tochter – die Familie scheint mit Töchtern gesegnet zu sein – namens Louise. Mich würde interessieren, was aus Gaston und Nicole im Zweiten Kaiserreich geworden ist. Über Gastons soziale Position wird hier nichts gesagt. Wahrscheinlich hat er die Tatsachen akzeptiert und seine königlichen Verwandtschaftsbeziehungen vornehm verschwiegen. Jedenfalls hat seine Tochter Louise im Jahre 1871 einen Russen geheiratet – ein Rückschlag in den alten Stammbaum. Mal sehen – 1871. Was verbinde ich mit 1871? Ach ja, den französisch-preußischen Krieg und Rußlands unfreundliches Benehmen gegenüber Frankreich wegen des Vertrags von Paris. O je! Ich fürchte, Louise ist mit Mann, Roß, Wagen und Artillerie zum Feind übergelaufen! Möglicherweise ist dieser Stefan Iwanowitsch etwa um die Zeit des Vertrags von Berlin in irgendwelchen diplomatischen Angelegenheiten nach Paris gekommen. Wer weiß.«
Leila Garland gähnte fürchterlich.
»Louise hat jedenfalls eine Tochter«, fuhr Wimsey fort, ganz versunken in seine Überlegungen. »Und sie heiratet wieder einen Russen. Wahrscheinlich leben sie jetzt wieder in Rußland. Melanie heißt die Tochter, ihr Mann heißt Alexis Gregorowitsch, und das sind die Eltern von Paul Alexis, mit wieterem Namen Goldschmidt, der vor der russischen Revolution gerettet wird, nach England kommt, hier eingebürgert wird, den Beruf eines Hotelgigolos ergreift und auf dem Satans-Bügeleisen ermordet wird – aber warum?«
»Wer weiß«, sagte Leila und gähnte noch einmal.
Nachdem Wimsey überzeugt war, daß Leila ihm wirklich alles erzählt hatte, was sie wußte, nahm er das kostbare Blatt Papier und ging mit seinem Problem zu Harriet.
»Aber das ist doch albern«, sagte diese praktisch denkende junge Dame, als sie das Blatt sah. »Selbst wenn Alexis’ Ururgroßmutter fünfzigmal mit Nikolaus I. verheiratet gewesen wäre, gäbe ihm das kein Anrecht auf den Thron. Da gibt’s doch Dutzende von Leuten, die der Thronfolge näher wären als er – der Großherzog Dimitri zum Beispiel und alle möglichen anderen.«
»So? Ja, natürlich. Aber man kann die Leute jederzeit dahin bringen, daß sie glauben, was sie gern glauben möchten. Die liebe Charlotte
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