Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel
Zwillingsbruder gibt. Was ist aus ihm geworden – das heißt, was aus ihm geworden ist, weiß ich schon mehr oder weniger –«
»Das Kind ist gestorben«, sagte sie hastig.
»Ich widerspreche Ihnen außerordentlich ungern«, sagte Wimsey. »Es ist so ungezogen. Aber das Kind ist nicht gestorben. Es lebt sogar heute noch. Und ich möchte von Ihnen nur den Namen wissen.«
»Und warum sollte ich Ihnen überhaupt etwas sagen, junger Mann?«
»Weil«, sagte Wimsey – »Sie mögen verzeihen, wenn ich hier etwas erwähne, was einem feinsinnigen Menschen ein Greuel sein muß – weil ein Mord begangen wurde und Ihr Neffe Robert der Tat verdächtigt wird. Nun weiß ich aber zufällig, daß der Bruder der wahre Mörder ist, und darum möchte ich ihn finden. Es würde mir eine Last von der Seele nehmen – ich bin nämlich von Natur aus zartbesaitet –, wenn Sie mir behilflich wären. Andernfalls müßte ich nämlich zur Polizei gehen, und dann würden Sie unter Strafandrohung vorgeladen, und ich möchte Sie nicht gern bei einem Mordprozeß im Zeugenstand sehen – wirklich nicht. All dieses häßliche Aufsehen und so. Wenn wir hingegen schnell den Bruder in die Finger bekämen, könnten Sie und Robert da ganz herausgehalten werden.«
Mrs. Brown saß mit grimmiger Miene da und überlegte ein paar Minuten.
»Also gut«, sagte sie, »ich erzähle es Ihnen.«
»Natürlich«, sagte Wimsey ein paar Tage später zu Chefinspektor Parker, »lag die Sache völlig klar auf der Hand, nachdem man über Mr. Duckworthys seitenverkehrtes Innenleben Bescheid wußte.«
»Gewiß, gewiß«, sagte Parker. »Nichts einfacher als das. Trotzdem brennst du doch darauf, mir zu schildern, wie du zu diesem Schluß gekommen bist, und ich will mich gern belehren lassen. Sind alle Zwillinge seitenverkehrt? Und sind alle seitenverkehrten Leute Zwillinge?«
»Ja, nein. Oder vielmehr: nein, ja. Zweieiige Zwillinge und eine ganze Reihe eineiiger Zwillinge können völlig normal sein. Aber bei eineiigen Zwillingen kann es eben passieren, daß der eine das Spiegelbild des andern ist. Es hängt davon ab, auf welche Weise die ursprüngliche Eizelle sich geteilt hat. Bei Kaulquappen kannst du das mit einem Stück Roßhaar künstlich herbeiführen.«
»Muß ich unbedingt demnächst mal machen«, sagte Parker mit ernster Miene.
»Und ich habe sogar einmal irgendwo gelesen, daß ein Mensch mit seitenverkehrten Organen nahezu immer der eine Teil eines eineiigen Zwillingspaars ist. Du siehst also, daß ich, während der arme Robert Duckworthy vom Student von Prag und der vierten Dimension faselte, die ganze Zeit nur auf den Zwillingsbruder gewartet habe.
Allem Anschein nach hat sich folgendes zugetragen. Es waren einmal drei Schwestern namens Dart – Susan, Hester und Emily. Susan heiratete einen Mr. Brown; Hester heiratete einen Mr. Duckworthy; Emily blieb ledig. Nun wollte es eine Ironie des Schicksals, von denen es im Leben so viele gibt, daß die einzige von den dreien, die ein Kind bekam – anscheinend auch die einzige, die überhaupt welche bekommen konnte –, die unverheiratete Emily war. Zum Ausgleich tat sie des Guten zuviel und bekam gleich Zwillinge.
Als diese Katastrophe sich anbahnte, vertraute Emily (die vom Kindesvater natürlich sitzengelassen worden war) sich ihren Schwestern an, denn ihre Eltern waren tot. Susan war ein Drachen – außerdem hatte sie über ihrem Stand geheiratet und klomm auf einer Leiter guter Werke ständig weiter in die Höhe. Sie tat ihre Meinung kund und wusch ihre Hände in Unschuld. Hester war eine gütige Seele. Sie erbot sich, das Kind nach der Geburt zu adoptieren und als ihr eigenes aufzuziehen. Nun, das Baby kam, aber wie schon gesagt, in doppelter Ausfertigung.
Das war für Mr. Duckworthy ein bißchen zuviel. Zu einem Kind hatte er seine Zustimmung gegeben, aber von zweien war nicht die Rede gewesen. Hester durfte sich ihren Zwilling aussuchen, und da sie so eine gütige Seele war, wählte sie den schwächlicheren von beiden – unsern Robert Duckworthy, den Spiegelzwilling. Den andern mußte Emily behalten, und sowie sie wieder bei Kräften war, setzte sie sich mit ihm nach Australien ab, und seitdem hat man nie mehr etwas von ihr gehört.
Emilys Zwilling wurde auf ihren Namen Dart registriert und Richard getauft. Robert und Richard, zwei schöne Knaben. Robert wurde als Hester Duckworthys leibliches Kind angemeldet – solche lästigen Vorschriften, wonach die Geburt eines Kindes von Ärzten und
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