Wimsey 16 - Mord in mageren Zeiten
Ausschau zu halten, der virtuose Killerhände hatte, war freilich etwas ganz anderes. Irritiert stellte Harriet fest, dass sie eine recht deutliche Vorstellung von Archie Luggs Händen hatte: breit, mit leicht löffelförmigen, flachen Fingern. Die physische Kraft hätte er natürlich … Sie wandte sich wieder ihrem Brief zu.
Aber dem Brief war an diesem Morgen kein Glück beschieden. Sie hörte leises Kinderweinen auf der Treppe, und als sie den Kopf zur Tür hinausstreckte, fand sie den in Tränen aufgelösten Charlie vor.
«Was ist denn?», fragte sie. «Onkel Jerry ist weg!», heulte er.
Sie streckte ihm die Arme entgegen und drückte ihn kurz. Wollte er mit zehn noch umarmt werden? Ja, es schien so, denn er klammerte sich an ihr fest. Mein Gott, dachte Harriet, was sage ich nur? Ich kann schlecht sagen, dass Jerry schon nichts passieren wird, wenn das Gegenteil nur zu wahrscheinlich ist. Sie hielt nichts davon, Kinder anzulügen. Die Nachrichten waren furchtbar deprimierend. Ein zunehmend brutaler Luftkampf tobte über der Nordsee. Deutsche Flugzeuge und deutsche U-Boote griffen neutrale Schiffe und sogar kleine Fischerboote entlang der Küste an. Die britische Regierung hatte beschlossen, Handelsschiffe zu bewaffnen, und die Nazis hatten angekündigt, britische Handelsschiffe als Kriegsschiffe zu betrachten. Das bedeutete natürlich, dass Jagdflieger wie Jerry Einsätze über dem Kanal und der Nordsee flogen. Keiner konnte die Augen davor verschließen, wie gefährlich das war. Und dass die Achillesferse Großbritanniens in der Notwendigkeit einer Versorgung auf dem Seeweg bestand.
«Er ist weg», ließ sich in ihrer Umarmung Charlie undeutlich vernehmen. «Und bei mir geht das Ding nicht! Auch nicht bei Sam», sagte er wieder in normalem Ton, als er sich losmachte. «Welches Ding denn, Charlie?»
«Mein Detektor!», rief er. Seine Stimme kippte schon wieder.
«Bist du sicher, dass du ihn richtig zusammengebaut hast?»
«Ich glaube schon, aber er fängt dauernd falsche Frequenzen auf.»
«Da bin ich wohl nicht die Richtige, dir zu helfen, Charlie», sagte sie. «Ich verstehe nichts davon. Aber am Wochenende kommen deine Eltern her. Vielleicht weiß dein Vater weiter.»
«Das dauert ja noch ewig!» Doch er trottete davon, und als Harriet einige Minuten später von ihrem Brief aufsah, spielte er mit Bredon und Polly auf dem Rasen French Cricket und machte einen völlig wiederhergestellten Eindruck. Der Brief an Miss Climpson war fertig, und sie fing einen zweiten an Peter an.
Zwar hatte sie in letzter Zeit keinen Brief von ihm erhalten, auf den sie hätte antworten können, aber sie holte immer wieder gern seine letzte, nach allen Regeln der Verschwiegenheit verfasste Nachricht hervor. Sie war als Brieftelegramm bei ihr angekommen, nicht größer als eine Postkarte, in winziger Maschinenschrift eng beschrieben und mit dem amtlichen Stempel des Zensors versehen.
… Wie jenem Herrn in dem Weihnachtslied ward mir ein wunderlich Bild zuteil – Hochwürden und der ge flohene protestantische Pfarrer, die zusammen ein Glas tranken und in sehr gebrochenem Latein die Ver folgung der orthodoxen Kirche in Russland erörterten. Selten drang solch geballte religiöse Toleranz an mein Ohr, selten auch so falsche Aussprache …
Der scherzhafte, ironische Tonfall schallte ihr aus diesen Zeilen entgegen, als wäre Peter selbst im Zimmer und unterhielte sich mit jemandem. Sein Brief hatte die Zensur durchlaufen, und doch war es ihm gelungen, sie zum Schmunzeln zu bringen. Am Ende ein Postscriptum:
Ich lege vorsorglich meine Grabinschrift fest: Hier ruht ein Anachronismus in ungewisser Erwartung der Ewigkeit.
Harriet legte den Brief zu den anderen in ihrem Schreibtisch und begann einen neuen an ihn. Die Unwägbarkeiten der Korrespondenz machten ein eingespieltes Hin und Her von Brief und Antwort unmöglich. Aber die Hoffnung, ihn zu erreichen, blieb ihr, und sie konnte wie Noah eine Taube aussenden.
Wenn man in Paggleham Bedarf an Klatsch hatte, dachte Harriet, so brauchte man nur unauffällig Mrs. Ruddle über den Weg zu laufen. Mr. Kirk hatte sie zwar nicht ausdrücklich darum gebeten, sich über die Beschaffung der Namen bei den landwirtschaftlichen Helferinnen hinaus auch noch über die beiden ortsansässigen jungen Männer kundig zu machen, aber Harriet fand, entweder ließ man sich auf etwas ein, oder man ließ es bleiben. Einmal in die Sache hineingezogen, konnte sie nicht so tun, als stünde sie
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