Wimsey 16 - Mord in mageren Zeiten
gesammelte Werke standen: Das Mörder Vademecum von Lord Peter Wimsey, Bemerkungen über das Sammeln von Inkunabeln au s der Hand desselben Autors, eine Reihe von schmalen Broschüren: Darstellungen verschiedener Gegenstände, denen Peter irgendwann einmal eine gewisse Zeit lang seine Aufmerksamkeit zugewandt hatte. Daneben kam ihr Werk schamlos daher, da der Verlag sie mit Schutzumschlägen versah, die im übervollen Buchladen dem Kunden ins Auge stechen sollten: Der Tod im Koch topf, Mord auf Raten, Das Geheimnis des Füllfederhal ters – eine grelle Reihe von Harriet-Vane-Titeln. Aber richtig frivol erschien ihr diese Art der Beschäftigung erst im Vergleich zu den Gefahren, die derzeit drohten. Frivol? Peter hatte sich ja einmal entschieden geweigert, dieses Wort auf ihre Kriminalgeschichten anzuwenden. Er hatte gesagt, sie führten dem Publikum die Welt vor, wie sie sein sollte, und dass sie einem Traum von Gerechtigkeit Leben einhauchten. Und wo blieb die Gerechtigkeit jetzt? Wie konnte sie im Krieg am Leben bleiben? Schon die Gerechtigkeit vor der eigenen Haustür war derzeit ein Damm aus Sand, der einer tobenden Flut trotzen wollte. Ihr wurde plötzlich klar, dass durch die allgegenwärtige Gefahr eine kleine Ungerechtigkeit, ein einzelner ziviler Mord nicht etwa weniger bedeutend, sondern im Gegenteil noch bedeutender wurde. Wir können nicht einfach aufgeben, was wir mit unserem Kampf verteidigen wollen – unser Selbsterhalt würde unhaltbar, dachte sie. In seinem letzten Brief, schon Wochen alt, hatte Peter ihr vorgeschlagen, ihre Fähigkeiten doch dafür einzusetzen, dass die Allgemeinheit ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelte und Mut fasste für die Aufgaben und Kümmernisse, die auf sie zukamen. Aber die Allgemeinheit verhielt sich im Großen und Ganzen sehr viel besser, als es das alberne Ministerium für Moral erwartet hatte. Und Harriets Fähigkeiten lagen eigentlich nicht auf dem Gebiet der Propaganda, jedenfalls nicht direkt. Ganz sicher hatte sie Recht, wenn sie meinte, einen Rock für ihre Nichte Polly zu schneidern sei eine wichtigere Beschäftigung. Angesichts der furchtbaren Möglichkeit, dem fröhlichen Schwarm Kinder unter ihrem Schutz könnten Elend und Tod bevorstehen, schien es unendlich wichtig, alle Sorgen von ihnen fern zu halten, solange es ging. Und das konnte schwierig werden. Erst gestern hatte Bredon mit seinen kaum vier Jahren sie beim Anblick eines Stücks eingefallener Gartenmauer an der High Street gefragt, ob es sich um Kriegsschäden handele. In gewissem Sinne war es so, denn der alte Mr. Critch war hineingefahren, als er während der Verdunklung von der Straße abkam. Aber woher hatte Bredon solche Wörter, wo sie doch nur Nachrichten hörte, wenn die Kinder schon im Bett waren oder wenigstens außer Hörweite spielten?
Sadie war gekommen, um Paul zu Bett zu bringen. Harriet zog vorsichtig ihren stützenden Arm unter dem Kopf des schlafenden Kindes hervor und übergab es an das Hausmädchen. Sie versuchte, ihre Ge danken zu ordnen. Einerseits verlebten die Kinder hier eine wundervolle Zeit, konnten toben, freundeten sich mit den Dorfkindern an, hatten immer jemanden zum Spielen. Wie einsam war sie im Vergleich dazu selbst als Kind gewesen! Wie einsam war sie in einer Hinsicht jetzt. Daran zu denken, wie sehr sie Peter vermisste, war unerträglich für sie, es war zu schmerzhaft, zu angstbeladen. Aber was sie tatsächlich auch vermisste, war ihr Beruf. An einem kleinen Schreibtisch im Wohnzimmer hastig ein paar Zeilen hinzuwerfen, ständigen Unterbrechungen ausgesetzt, das war gewiss nicht mehr die Arbeit von früher, in der sie ganz und gar aufgegangen war und Trost gefunden hatte. War das der Grund, weshalb sie auf die Bitte von Superintendent Kirk eingegangen war? Um an etwas herumknobeln zu können, das nichts mit dem Haus zu tun hatte und logisches Denkvermögen erforderte?
Wenn das der Fall war, dann war es nicht richtig, die Sache halbherzig anzugehen. Das reichte nicht. Die Gemahlin von Lord Peter musste sich ganz der Herausforderung stellen.
Ohne einen ausdrücklichen Auftrag von Mr. Kirk war Harriet keineswegs gewillt, den hier beheimateten jungen Männern aufzulauern und sie zu befragen, und außerdem hatte er diese Aufgabe offenbar auch seinem zuständigen Constable Jack Baker überantwortet. Es erschien nicht recht passend, junge Leute über ihre Rendezvous und ihr Liebesleben auszuhorchen, wenn man es nicht in dienstlicher Eigenschaft tat.
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