Wimsey 16 - Mord in mageren Zeiten
den Zug nach Hause verpassen. Gab es heute Abend noch eine Verbindung? Die Züge fuhren jetzt viel seltener, und auf die Fahrpläne konnte man sich nicht mehr verlassen. Mitten in einem Luftangriff würde sie sicher auch kein Taxi bekommen, und sie wusste nicht, ob die Busse noch fuhren. Tatsächlich war ihr die Vertrautheit mit London abhanden gekommen, so sehr hatte sich die Stadt gewandelt. Vielleicht konnte sie die drei Kilometer bis zum Bahnhof Liverpool Street einfach zu Fuß gehen? Auch keine verlockende Aussicht während des Alarms. In ihrer Handtasche steckte ein Brief, den sie kürzlich von Peters Onkel Paul erhalten hatte; er erinnerte sie daran, dass London ein gefährliches Pflaster war. Armer lüsterner und ewig unzufriedener Onkel Paul, er war aus seinem geliebten Frankreich vertrieben worden und musste nun im kühlen London leben. Sie zog den Brief hervor und überflog ihn noch einmal.
… Vergangene Woche habe ich mit deinem Schwager Gerald und seiner Frau im Oberhaus zu Mittag geges sen. Da sie doch am Ministerium für Belehrung und Moral ist – Dieu sait pourquoi! –, habe ich angeregt diese Institution solle Anstrengungen unternehmen, die städtische Bevölkerung in der Wissenschaft des Gehens im Dunkeln zu unterweisen. Unnötig zu er wähnen, dass mich der weitere Verlauf des Gesprächs nicht befriedigte (ich nehme nicht an, dass je ein Mann Befriedigung durch Helen erfahren hat, am we nigsten ihr Gatte. Wie ich ihn bereits vor dreißig Jah ren gewarnt habe, bringt sie dafür weder die Figur noch das Temperament mit). Zur angesprochenen Frage legte sie mir dar, dass das Ministerium keine Notwendigkeit sehe, Propaganda zu verbreiten – die Verdunklung werde gut von der Bevölkerung ange nommen, und die Denkart der Nation sei tadellos. Ich erklärte ihr, dass es mir nicht um ihre Denkart zu tun sei, sondern um ihren Denkapparat, der einerseits der Verbeulung entgegensehe und andererseits unterfor dert werde: Was ich nicht tolerieren könne, sei kei neswegs die Verdunklung (die sorgt für eine wohltu ende Abwechslung von der Vulgarität, die normaler weise die Straßen der Metropole verunstaltet), son dern die Verletzungsgefahr. Ich fügte hinzu, dass auch die tadelloseste Denkart einer Nation durch Sterbera ten, die gegenwärtig in Großbritannien höher sind als an der Westfront, unweigerlich einen Dämpfer er leiden muss …
Harriet war also gewarnt! Und sie hatte Hunger, was keine große Überraschung war, da das Mittagessen mit Eiluned schließlich schon mehr als sieben Stunden zurücklag. Sie öffnete die Tür zur Speisekammer, eine Handlung, die sie als Dame des Hauses nie vollzogen hatte, und blickte erwartungsgemäß in nahezu leere, unerbittlich ordentliche Regale, aus denen alle verderblichen Lebensmittel entfernt worden waren. Alles, was sie fand, waren zwei Büchsen Sardinen, ein Glas Fleischpaste, ein Paket Haferflocken und eine Dose Zuckersirup. Der Hunger verließ sie jählings. Bei abgestelltem Strom und kaltem Herd bestand natürlich auch keine Möglichkeit, Porridge zu kochen. Harriet kehrte zu ihrem Lehnstuhl zurück und schlief ein.
Sie erwachte um neun Uhr, ganz kalt und steif. Konnte sie die Entwarnung verschlafen haben? Wohl nicht. Sie entschloss sich, ihre steifen Glieder dadurch zu lockern, dass sie die Stockwerke des Hauses hinauf- und hinunterlief, und nahm sogleich die elegant geschwungene Treppe mit zwei Stufen auf einmal. Am obersten Treppenabsatz gab es ein kleines Schiebefenster, das als Mansardenluke nicht über Fensterläden verfügte. Harriet, ein wenig außer Atem, beugte sich vor, um hinauszusehen. In kühles Mondlicht getaucht, lag London vor ihr, jedes liebenswerte und weniger liebenswerte Detail, obwohl verschwommen, eindeutig zu identifizieren. Schornsteine und Feuerleitern, Dächer und Türme, dunkle Baumkronen über den Parks, der Kirchturm von St. James's, die leicht deplatzierte Exotik des italienisch inspirierten Turms der Kathedrale von Westminster, der sich über den Dächern jenseits des Parks erhob. Und das Ganze hatte der Mond vollkommen für sich, ohne dass ihm eine einzige Straßenlaterne oder ein Licht im Fenster ins Handwerk pfuschte, und er versah alles mit silbernen Konturen und bläulichen Schatten. Über sich hörte sie ein Brummen, und etwas weiter entfernt strahlten plötzlich die Lichter zweier Suchscheinwerfer auf und fingen an, in allen möglichen Neigungswinkeln den Himmel abzusuchen. Wo sich die Strahlen kreuzten, erschien
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