Wind der Gezeiten - Roman
doch dann trank er rasch seinen Tee aus und erhob sich. » Ich fürchte, ich muss nun wirklich fort. « Als sie ebenfalls aufstehen wollte, hielt er sie zurück. » Bitte behaltet Platz, Mylady. Und kostet von diesen kleinen Kuchen. Catherine kann wirklich ausgezeichnet backen. Sie kümmert sich übrigens sehr fürsorglich und mit großer Anteilnahme um Captain Haynes. Sobald er aufwacht, wird sie Euch zu ihm führen. Außerdem wird sie Euch ein Zimmer herrichten. «
» Aber ich kann doch unmöglich… «
» Ihr seid mein Gast, solange Ihr es wünscht « , fiel er ihr ins Wort, während er den kleinen Teetisch umrundete und vor ihrem Stuhl stehen blieb. Er beugte sich zu ihr, nahm ihre Rechte und deutete einen Handkuss an. » Wünscht mir Glück auf See, Lady Anne. Es würde mich sehr freuen, wenn wir uns bald wiedersehen. «
Anne, völlig konsterniert von dieser Geste der Ehrerbietung, starrte ihm nach, während er hinausging. Sie atmete tief ein. Der Raum roch noch nach ihm, obwohl er bereits die Tür hinter sich geschlossen hatte– eine angenehme Mischung aus Pfeifentabak, Sandelholz und Bayrum. Ihr Herz klopfte unvernünftig schnell.
21
H ungrig schlug Deirdre ihre Zähne in das knusprig gegrillte Fleisch, das die Indianerin ihr reichte. Es handelte sich um den Schenkel eines riesigen Frosches, den die Eingeborenen über dem buccan zubereiteten, so wie vieles andere, das sie in den Wäldern und unten am Fluss jagten und fingen. Beim Essen stellte sie sich vor, es sei Hühnchen, das half beim Kauen und Schlucken. Außerdem schmeckte es nicht schlecht, zumindest viel besser als so manches, was sie früher in Dublin heruntergewürgt hatte, weil sie anderenfalls verhungert wäre.
In dem nach zwei Seiten hin offenen Langhaus brannten mehrere Kochfeuer, deren Rauch größtenteils nach draußen abzog, doch ein paar Schwaden verbreiteten sich auch in dem Raum und bissen in den Augen. Die Indianer schienen sich nicht daran zu stören, aber die mussten es ja auch nicht den ganzen Tag hier drin aushalten. Deirdre hatte darum gebettelt, dass man sie losband und hinausließ, wenigstens kurz, damit sie sich am Fluss waschen oder ihre Notdurft für sich allein verrichten konnte, doch die Frauen ignorierten ihre Bitten. Wenn Deirdre zu laut oder gar wütend wurde, reagierten sie mit Tritten und groben Püffen oder gaben ihr einfach nichts mehr zu trinken, bis ihr vor Durst die Zunge am Gaumen klebte und sie für einen Schluck Wasser alles getan hätte.
Sie legte den abgenagten Knochen zur Seite und trank aus dem Tonbecher, den eine der Frauen ihr gegeben hatte. Viel war es nicht, doch die Aussichten, vor dem Abend noch einmal welches zu bekommen, standen schlecht. Die Indianerinnen waren nicht grausam, schienen aber Deirdres Anwesenheit als lästig zu empfinden und reagierten entsprechend verärgert, wenn sie sich allzu laut bemerkbar machte. Am ersten Abend hatte sie den Fehler begangen, verzweifelt nach Edmond zu rufen, immer wieder, bis schließlich eine der älteren Frauen, eine mit Federn und Muschelketten behängte Matrone, sie so lange mit dem Stock geschlagen hatte, bis sie still war. Seither verstrich die Zeit in quälender Langsamkeit. Die Frauen gingen tagsüber geschäftig ihrer Arbeit nach, versorgten die überall herumwuselnden Kinder, rupften Vögel oder nahmen Fische aus, bereiteten auf flachen, erhitzten Tonscheiben Maisfladen zu, flochten Matten aus Schilf oder fertigten an primitiven kleinen Webstühlen aus fest gedrehten Pflanzenfasern Stoffstücke an. Hin und wieder schlichen Kinder um Deirdre herum und betrachteten sie mit großen Augen, und mehr als einmal versuchten sie, ihr Haar zu berühren, das für sie offenbar das Erstaunlichste an der weißen Frau war. Doch wenn Deirdre mit ihnen reden wollte, rannten sie weg. Manchmal erschien auch ein Mann in der Hütte, stolzierte an den Arbeitsstätten vorbei und sah nach dem Rechten, scheinbar ohne Deirdre dabei besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Aber ihr entging nicht, dass er sie beobachtete. Es war einer der Männer, die sie und Edmond ins Dorf gebracht hatten, und sie ahnte, dass er sie auf Befehl des Kaziken im Auge behalten und ihm Bericht erstatten sollte. Der Kazike selbst hatte sie bisher in Ruhe gelassen. Wenn sie ihn überhaupt zu Gesicht bekam, würdigte er sie kaum eines Blickes, aber sie wusste, dass seine Gleichgültigkeit nur gespielt war.
Zur Schlafenszeit gingen die Frauen und Kinder zu ihren Hütten und nahmen Deirdre mit. Die erste
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