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Wind der Gezeiten - Roman

Wind der Gezeiten - Roman

Titel: Wind der Gezeiten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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unter den Füßen weg! «
    Sie ignorierte heldenhaft den beleidigten Protest des Bettlers und eilte weiter, um Mister Creed in dem Gewühl nicht zu verlieren. Ein Seifensieder rührte vor seinem Laden in einem stinkenden Kessel, und gerade als Anne an ihm vorbeikam, warf er eine Ladung Knochen in die brodelnde Brühe. Sie sprang zur Seite, um nicht von den Spritzern getroffen zu werden, während Mister Creed weniger Glück hatte. Er bedachte den Mann mit herzhaften Flüchen und tupfte im Weitergehen unter allerlei Lamento seinen vornehmen blauen Gehrock ab. Auch seine Perücke hatte etwas abbekommen. Immer wieder schnüffelte er daran und machte dabei ein jammervolles Gesicht.
    Der Gestank war allerdings ohnehin allgegenwärtig, Anne fühlte sich teilweise dem Ersticken nahe. Es roch nach Qualm, Kloaken, Schweinemist und verfaulten Küchenabfällen. Rauch quoll aus den Schornsteinen, aber auch aus den Türen und Fenstern der Häuser, die dicht an dicht standen.
    Mister Creed zupfte ein mit Veilchenöl gesprenkeltes Tuch aus seinem Beutel und hielt es sich vor die Nase.
    » Gott, ich vergesse immer wieder, wie verräuchert es hier in der Gegend ist. Eines Tages brennt noch ganz London ab! All die Holzhäuser! Dächer aus Stroh und Schindeln! Und so viele Kochfeuer, Hunderte und Aberhunderte auf engstem Raum! Nur ein Funke zu viel, und die ganze City steht in hellen Flammen. «
    Sie wichen zwei schwitzenden Burschen in grober Kleidung aus, die eine Sänfte vorbeitrugen.
    Mister Creed blickte ihnen bedauernd hinterher.
    » Das hätten wir vielleicht auch tun sollen. Aber nun ist es ja nicht mehr weit. « Neugierig wandte er sich zu Anne um. » Wie ist Euer erster Eindruck von der Stadt nach all den Jahren, Mylady? «
    Auf der Fahrt von Essex in die Stadt hatte Anne sich mit ihm unterhalten und ihm einiges aus ihrem Leben erzählt. Auf seine Frage hin zuckte sie jedoch nur stumm die Achseln. Was hätte sie ihm auch antworten sollen? Dass sie sich an ein ganz anderes London erinnerte? Die Stadt erschien ihr wie ein Moloch, ein Ungetüm, das Menschen verschlang und wieder ausspie und dabei an seinen Ausdünstungen zu ersticken drohte.
    Nach dem ersten Schrecken hatte sich Enttäuschung in ihr breitgemacht, die selbst dann nicht wich, als Mister Creed sie nach einer weiteren Querstraße in eine breite, saubere Allee führte, die ähnlich aussah wie jene, über die sie einst mit ihren Eltern spaziert war, früher, in einem anderen Leben und zu einer anderen Zeit. Möglicherweise war es sogar dieselbe wie damals, doch an ihrer Ernüchterung änderte das nichts. Ihr war längst klar, dass sie sich naiven Illusionen hingegeben hatte. Sie hatte sich Hoffnungen gemacht, die auf nichts anderem fußten als auf kindlichen Träumen.
    Vielleicht lagen ihre falschen Erwartungen darin begründet, dass sie niemals hier gewohnt hatte und die Stadt folglich gar nicht richtig kannte. Das Landgut, von dem sie stammte, lag in Wiltshire. Ihre Eltern hatten sie lediglich zweimal mit nach London genommen, weil ihr Vater geschäftlich in der Stadt zu tun hatte und ihre Mutter die Großmutter besuchen wollte, die ein Haus am Covent Garden besaß. Dort war es sauber und ordentlich gewesen, ein schöner Platz, gesäumt von gepflegten Straßen. Das Haus selbst war ein Schmuckstück der Baukunst und stand immer noch. Bis vor ein paar Jahren war es sogar noch im Besitz der Familie gewesen, doch nach dem Tod der Großmutter hatte William es verkauft, weil sie das Geld für die Erweiterung und Modernisierung der Plantage gebraucht hatten. Auf See hatte Anne noch gedacht, wie schade es doch sei, dass der alte Londoner Familiensitz nun Fremden gehörte, sie hätte sonst gut dort wohnen können. Nun erkannte sie, wie töricht diese Idee gewesen war, denn diese Stadt war nicht ihr Zuhause. Sie würde sich hier niemals wohlfühlen, auch wenn sie sich die ganze Zeit das Gegenteil eingebildet hatte.
    Ob es wohl anders gewesen wäre, wenn das Rad an der Kutsche nicht gebrochen wäre? Wenn sie nicht durch die schmutzige, stinkende Londoner City hätte gehen müssen, nicht die vielen zerlumpten, lärmenden Menschen gesehen hätte, sondern erst hier in dieser feudaleren Gegend ausgestiegen wäre?
    Anne dachte darüber nach und kam zu dem Ergebnis, dass es nichts geändert hätte. Sie hätte höchstens länger gebraucht, um es zu begreifen.
    » Da wären wir, Mylady « , sagte Mister Creed. Er deutete auf ein stattliches Gebäude. » Dies ist das Haus, zu dem Ihr

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