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Wind der Gezeiten - Roman

Wind der Gezeiten - Roman

Titel: Wind der Gezeiten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Nacht hatte man sie draußen angebunden. Das Rascheln zahlreicher Tiere in der Dunkelheit und die Sorge um Edmond hatten sie wach gehalten. Erst im Morgengrauen war sie in einen erschöpften Schlaf gesunken, aus dem die alte Frau sie jedoch kurz darauf geweckt und in das große Haus gezerrt hatte, wo man sie erneut angepflockt und den ganzen Tag nicht beachtet hatte. In der letzten Nacht hatte sie in der Hütte der alten Frau geschlafen, wo sie an einen Pfosten gefesselt die Nacht auf festgestampftem Lehmboden verbracht hatte, während die Alte– so wie die übrigen Indianer auch– in einer aus Baumwollfäden geknüpften Hängematte schlief.
    Nun war sie schon den dritten Tag hier im Indianerdorf, und immer noch gab es von Edmond kein Lebenszeichen. Sie hatte keine Ahnung, was die Wilden mit ihm gemacht hatten. Ihre Angst um ihn wurde von Stunde zu Stunde quälender. Immer wieder zog vor ihrem inneren Auge der Ablauf der Geschehnisse vorbei, jedes Mal versuchte sie den exakten Zeitpunkt festzuhalten, an dem sie, wenn sie sich nur richtig verhalten hätte, alles noch zum Guten hätte wenden können. Doch sosehr sie sich auch gedanklich abmühte, der Moment ließ sich nicht bestimmen, denn alles hatte ganz harmlos angefangen. Sie waren mit dem Kaziken und den beiden anderen Männern ins Dorf gekommen, eine Ansammlung schilfgedeckter Hütten auf einer Lichtung im Dschungel. Mittelpunkt des Dorfs war das große Haus, in dem die Frauen arbeiteten, das aber zum Schlafen und Ausruhen den Männern vorbehalten war. Bei ihrer Ankunft hatte dort ein halbes Dutzend Männer auf einer hölzernen Erhöhung gesessen und sich von den Frauen das Essen bringen lassen. Sofort hatten sich alle neugierig um die Fremden geschart. Einer der Männer hatte besonders imposant gewirkt. Grauhaarig, mit Federn und Perlen geschmückt, hatte er die Weißen mit würdevollem Interesse betrachtet. Edmond hatte ihn für den Häuptling gehalten und sich höflich und mit allerlei Gebärden vorgestellt. Danach hatte er sich kurz zu Deirdre umgedreht und sie ein wenig verzagt angesehen.
    » Nun muss ich ihm erklären, dass die Soldaten bald kommen und dass die Dorfbewohner ihre Hütten aufgeben müssen. Ich hoffe, ich finde die richtigen Worte! Mir scheint, das alles hier ist schwieriger, als ich dachte. Die Zeit war wohl doch viel zu kurz, um eine neue Sprache zu lernen. «
    Was immer er dem vermeintlichen Häuptling hatte sagen wollen– es blieb unausgesprochen. Der Kazike– der richtige– war aus der Schar der Übrigen vorgetreten. Unterstützt von den beiden Männern, die mit ihnen zusammen ins Dorf gekommen waren, hatte er Edmond ohne Vorwarnung gepackt und ins Freie gezerrt. Edmonds laute Protestrufe verhallten in dem aufgeregten Geschnatter der Frauen und Kinder, die den Männern nach draußen folgten. Deirdre wollte ihnen nach, aber mehrere Frauen hielten sie fest und legten ihr Fesseln an.
    Seitdem war sie die Gefangene der Indianer.
    Inzwischen wusste sie, dass der alte Mann nicht der Häuptling des Dorfs war, sondern nur ein Schamane. Die Indianer behandelten ihn ehrerbietig, aber den größten Respekt zollten sie dem jüngeren Mann, dessen Befehle sie stets unverzüglich befolgten.
    Am Vorabend hatte sie bei einer religiösen Zeremonie zugesehen, bei der sich die Indianer um den Alten versammelt und seinem gleichförmigen, seltsam hypnotischen Singsang gelauscht hatten. Sie hatten Tabakblätter und Kräuter angezündet, den aufsteigenden Rauch inhaliert und sich dabei summend hin und her gewiegt, während der Alte auf einer mit Tierhaut bespannten Kalebasse trommelte und dazu sang. Deirdre fühlte sich beim Anblick dieser Zusammenkunft an die Riten der Schwarzen auf Barbados erinnert. Auch dort hatten meist alte Männer als heidnische Zauberpriester fungiert und seltsamen Riten gefrönt.
    An diesem Tag wurde wieder eine Zeremonie vorbereitet. Die Frauen und Kinder bemalten sich ausgiebig mit frischen Farben, die sie aus zerstoßenen Pflanzen und Erde zubereitet hatten, und auch Deirdre wurden Gesicht, Arme und Beine mit dem feuchten Brei eingerieben. Sie ließ es geschehen, weil sie keinen Wert darauf legte, von der alten Frau, die mit energischen Bewegungen die Prozedur bei ihr durchführte, wieder mit Stockhieben traktiert zu werden. Kleid und Hemd hatten die Frauen ihr vor dem Bemalen grob vom Körper gezerrt und ihr stattdessen einen Lendenschurz und ein kurzes Leibchen aus kratziger Baumwolle übergestreift. Auf der einen Seite war

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