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Wind der Gezeiten - Roman

Wind der Gezeiten - Roman

Titel: Wind der Gezeiten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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wahrscheinlich Jahre « , meinte er. » Er hat es wirklich zu gut mit mir gemeint. «
    » Ich glaube, er hat es hauptsächlich für sich getan « , sagte Anne. » Um wieder zu Kräften zu kommen. « Sie war verlegen mitten im Raum stehen geblieben, unschlüssig, was sie als Nächstes tun oder sagen sollte. Ayscue wandte sich zu ihr um. Ein fragender Ausdruck stand in seinem Gesicht, aber auch Sorge und eine Spur von Verzweiflung.
    Sie konnte nicht an sich halten und ging auf ihn zu.
    » Das ist unser letzter gemeinsamer Abend, George. Ich bin… traurig, dass ich morgen fortmuss. Die Zeit hier in deinem Haus… sie hat mir viel bedeutet. « Sie lächelte ein wenig zittrig. » Weißt du, an dem Tag, als ich dich das erste Mal sah, war ich kurz vorher zu der Überzeugung gelangt, dass eine schnelle Heimkehr nach Barbados das einzig Richtige für mich sei. Dass ich nur dort auf Summer Hill wieder richtig glücklich werden könne. Ich hielt mich für dumm und naiv, weil ich unbedingt nach London gewollt hatte. Die Stadt kam mir so hässlich und abstoßend vor. Aber dann… « Sie hielt inne, und er blickte sie fragend an, während sie nach Worten suchte. » Auf einmal wollte ich gar nicht mehr weg. Jedenfalls nicht so schnell. Fast war ich froh, dass Duncans Verletzung ihn an dieses Haus gefesselt hat. Du hast alles verändert, George. Du hast mich verändert. Erst durch dich habe ich wirklich meine Lebensfreude zurückgewonnen. «
    » Das ist Unfug. Ich habe doch nichts getan. «
    » Doch. Du warst da. Du hast… mich angesehen und mir das Gefühl gegeben, wieder am Leben zu sein. « Sie wusste nicht, was sie ihm noch sagen sollte, doch weitere Worte waren ohnehin überflüssig. Er wusste genau, was in ihr vorging, und umgekehrt galt dasselbe. Sie waren beide nicht mehr jung, aber sie begehrten einander. Anne wollte dieses kleine Stückchen Glück, das ihnen in der kurzen Zeit noch blieb, sie wollte es so sehr, dass sie alle Prinzipien frommer und damenhafter Sittsamkeit bedenkenlos über Bord warf. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und berührte seine Schulter– eine unerhörte Kühnheit; sie hätte von sich selbst niemals geglaubt, dass sie dergleichen über sich bringen konnte. Durch den Stoff seiner Uniformjacke spürte sie die festen Muskeln, und sie bemerkte seine Anspannung.
    » Verdammt, Anne « , sagte er rau. Sonst nichts. Er holte tief Luft, dann ergriff er ihre Hand und drückte sie. Mit der anderen Hand strich er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ihr Herz setzte einen Schlag aus und schlug dann, wie ihr schien, mit doppelter Geschwindigkeit weiter.
    » Ich kann dir nichts versprechen und dir nichts bieten, Anne. Alles, was ich bin und habe, ist die Marine, und die hat man mir genommen. Ich habe kein nennenswertes Vermögen, und mein Name ist kaum noch die Tinte wert, mit der man ihn schreibt. Ich bin deiner nicht würdig. «
    » Ach George, rede bitte nicht so von dir « , sagte sie weich. Sie drückte seine Hand gegen ihre Wange. Die Schwielen an seiner Haut fühlten sich hart an, doch ließen sie ihn zugleich auf eine besondere Weise verletzlich erscheinen. Sie fühlte sich ihm so nah wie nie zuvor.
    » Eines Tages « , sagte er leise, » wenn ich erst… « Er brach ab, als sie den Kopf schüttelte.
    » George, mir ist klar, dass du mir nichts versprechen kannst, und du sollst es auch gar nicht. Niemand weiß, ob und wann wir uns wiedersehen. « Als er protestieren wollte, legte sie ihm den Finger auf die Lippen. » Wenn es sein muss, warte ich mein Leben lang auf dich. Aber heute ist unser letzter Tag. Heute, verstehst du? «
    Seine Augen leuchteten auf. Ein wenig unbeholfen legte er die Arme um sie und vergrub das Gesicht in ihrem Haar.
    » Was meinst du, wie lange Duncan noch wegbleibt? « , murmelte er.
    » Lange genug « , sagte sie. » Denn er ist allein um unseretwillen gegangen. Und Catherine sagte, sie werde frühestens zum Einbruch der Dunkelheit wieder da sein. « Sie schmiegte sich an ihn und seufzte tief, und als er sie endlich küsste, war es ihr, als sei sie nach langen Irrwegen nach Hause gekommen.
    Als Duncan auf der London Bridge ausstieg, war der Regen in ein sanftes Nieseln übergegangen. Die Themse wälzte sich träge und grau vorbei. Über die Brücke ergoss sich ein steter Strom von Menschen und Fuhrwerken in die Stadt, durch das Tor, über dem auf langen Spießen die Köpfe der Hingerichteten steckten. Aus toten Augen blickten sie auf das Gewimmel herab. Man hatte sie mit

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