Wind der Gezeiten - Roman
und zu Boden gefallen. William hob ihn auf und steckte ihn wieder ein. Johnny wuselte um ihre Beine herum und wollte wissen, wer der Mann sei, der da gekommen war. Er kannte William natürlich von Barbados, aber das letzte Zusammentreffen lag eine ganze Weile zurück, und so häufig hatte er ihn auch wieder nicht gesehen. Kinder in dem Alter waren zu jung, um sich an flüchtige Bekannte zu erinnern. Doch Johnny überraschte sie.
» Jetzt weiß ich’s, jetzt weiß ich’s! « , krähte er. » Es ist der Bruder von Tante Anne! «
» Ja « , sagte Elizabeth tonlos. » Es ist Onkel William. « Am liebsten hätte sie ihr Entsetzen und ihre Furcht laut herausgeschrien. Es kostete sie Mühe, an sich zu halten.
» Lizzie… « Williams Stimme klang tröstend, aber es lag auch ein fragender Unterton darin, als wollte er, dass sie ihm sagte, was er für sie tun könne.
» Es geht schon. « Sie atmete durch und zwang sich zur Ruhe. Auf keinen Fall wollte sie den Dorfbewohnern, deren Blicke immer noch neugierig auf ihr ruhten, ein Schauspiel bieten. » Komm, lass uns gehen. Ich will dich unseren Gastgebern vorstellen. «
Williams Erscheinen versetzte Yvette in helle Aufregung. Ein englischer Lord in ihrem Haus, und dazu die Tochter eines Viscounts! Sie zog alle Register, um Eindruck auf sie zu machen. In ihrem besten Seidenkleid, das Haar zu glänzenden, mit Zuckerwasser gestärkten Locken onduliert, sah sie wie ein süßes Kaninchen aus. Unablässig flatterte sie um den neuen Gast herum und achtete darauf, dass beim Abendessen von allem nur das Beste auf seinem Teller landete. Aus der Küche der Perriers wurden Speisen hereingetragen, die jedem Festbankett Ehre gemacht hätten. Yvette hatte alle verfügbaren Dienstboten an die Arbeit gescheucht, damit in der Kürze der Zeit noch ausreichend ansprechende Gerichte zubereitet werden konnten. Es gab gesottenen und gebratenen Fisch, Langusten und Austern, gegrillte Lende, gebackenen Schinken, dazu allerlei gedünstetes und geschmortes Gemüse sowie mit Safran verfeinerten Reis, und als Nachspeisen Cremes und süße Pasteten. Yvette selbst aß wie ein Spatz, sie pickte nur auf ihrem Teller herum, bestand aber darauf, dass William und Elizabeth alles probierten. Immer wieder fragte sie, ob es denn auch wirklich munde, und William musste ein ums andere Mal beteuern, wie hervorragend es ihm schmecke. Nach der langen Überfahrt hatte er zum Glück einen Bärenhunger und konnte den aufgetischten Köstlichkeiten gebührend zusprechen. Dass Elizabeth nur wenig aß und bis auf einsilbige Bemerkungen kaum zur Unterhaltung beitrug, beeinträchtigte Yvettes Stimmung nicht, denn sie selbst redete wie ein Wasserfall und hielt die Unterhaltung schon allein damit in Gang, dass sie William ununterbrochen ausfragte. Mit geröteten Wangen schenkte sie nach dem letzten Gang eigenhändig heißen, aromatisch duftenden Rumpunsch aus, den ein Diener auf der Terrasse flambierte, während Henri eine Schachtel von seinen besten Zigarren hervorholte und William eine davon kredenzte. William, der Elizabeth immer wieder mit besorgten Seitenblicken bedachte, schien die ganze Zeit darauf zu warten, dass sie sich unter irgendwelchen Vorwänden zurückzog, doch sie hatte sich bewusst dagegen entschieden. Sosehr es sie drängte, allein zu sein und sich unbeobachtet ihrem Kummer hingeben zu können, so genau wusste sie auch, dass sie das noch weniger würde aushalten können, als hier mit den anderen zusammenzusitzen und so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung. Als die beiden Männer sich jedoch zum Rauchen auf die Terrasse begaben, nutzte auch Elizabeth die Gelegenheit, sich die Füße zu vertreten, obwohl sie Yvette versprechen musste, rasch zurückzukommen.
» Ich möchte nachher noch auf dem Virginal spielen! Und du sollst dazu singen, du hast eine so herrliche Stimme! «
Elizabeth murmelte eine Zustimmung und ging in ihre Kammer, um nach den Kindern zu sehen. Beide schliefen tief und fest, Johnny in seiner Hängematte und Faith in der Wiege, die Oleg für sie gezimmert hatte, gleich in der ersten Woche nach ihrer Ankunft auf Basse-Terre. Auf der Schaluppe hatten sie kaum das Nötigste mitnehmen können. Elizabeth lächelte flüchtig, weil sie dabei an Felicity denken musste, deren ganzes Seelenheil immer davon abhing, dass sie ausreichend Gepäck mit auf ihre Reisen nehmen konnte. Wie es ihr wohl in den vergangenen Wochen ergangen sein mochte? Elizabeth sorgte sich um Felicity, obwohl das im
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