Wind der Gezeiten - Roman
gegeben, wieder so von ihm gehalten zu werden!
» Ist alles in Ordnung? « , fragte William.
Sie nickte nur stumm und sah zum Sternenhimmel hinauf. In prachtvoller Vielfalt hatten sich die vertrauten Konstellationen am Firmament ausgebreitet, funkelnd wie Diamanten auf schwarzem Samt. Als sie sich wieder zu William umwandte, sah sie, dass Henri sich taktvoll zurückgezogen hatte, damit die Besucher ungestört miteinander reden konnten. Bisher hatten sie noch kein Wort allein wechseln können. Elizabeth holte tief Luft, weil ihr Herz mit einem Mal den Brustkorb zu sprengen drohte, und im nächsten Augenblick brach sie in Tränen aus. Es war, als hätte die Anstrengung, über Stunden hinweg stark und gefasst zu bleiben, ihr letztlich alle Kraft geraubt. Sie fühlte sich schwach und verlassen, so hilflos wie ein Kind, dem jemand befohlen hatte, ein tiefes, unheimliches Gewässer zu durchschwimmen. Sie wusste nicht, ob sie es schaffen würde. Ob sie es überhaupt versuchen oder doch lieber gleich untergehen sollte. Noch nie im Leben hatte sie sich so einsam gefühlt.
William nahm sie ohne zu zögern in die Arme, es störte weder sie noch ihn, was die Perriers von so viel Vertraulichkeit halten mochten. In diesem Augenblick war er einfach nur ein Mensch, auf dessen Nähe Elizabeth verzweifelt angewiesen war. Er drückte sie fest an sich und strich ihr mit der Hand immer wieder über den Hinterkopf, so wie ihr Vater es einst getan hatte, als sie damals vor über fünf Jahren ihre Schwester Jane und deren Kind gleichzeitig zu Grabe getragen hatten. Die beiden waren am selben Tag gestorben. Davor, im Abstand von nur wenigen Monaten, hatten sie Elizabeths andere Schwester, den Bruder und die Mutter beerdigt. Krankheiten und andere Unglücksfälle hatten den größten Teil ihrer Familie hinweggerafft, irgendwann hatte Elizabeth geglaubt, gegen den Schmerz abzustumpfen und keine Tränen mehr zu haben. Doch als am Ende auch noch Jane hatte gehen müssen, zusammen mit dem eben erst geborenen Mädchen, war die Trauer genauso qualvoll gewesen wie bei all den anderen, und ihr Körper hatte Ströme weiterer Tränen hervorgebracht. Damals hatte ihr Vater sie so gehalten, wie William es jetzt bei ihr tat. Tröstlich, innig, voller Mitgefühl. An jenem Tag auf dem Familienfriedhof von Raleigh Manor hatten sie alles verloren, nur nicht einander.
William war ihr ganz nah, und sie schlang die Arme um ihn, bis sie seinen Herzschlag spüren konnte. Ihr Gesicht war an seiner Schulter vergraben, in dem weichen Baumwollstoff seines Hemdes. Er roch nach Sandelholz, Tabak und einem nicht unangenehmen Hauch von männlichem Schweiß. Vage wurde ihr bewusst, wie vertraut ihr sein Geruch war und wie tröstlich seine Berührung. Sein Mund berührte ihre Schläfe, er murmelte Worte in ihr Haar, die sie nicht verstand, deren Klang sie aber beruhigte. Von drinnen waren die sanften Klänge des Virginals zu hören und dazu Yvettes süßer Sopran, ein wehmütiges Lied von Liebe und Tod.
Nach einer Weile fühlte Elizabeth sich besser. Sie schniefte in Williams Hemd und seufzte aus tiefem Herzen.
» Ach William, was täte ich nur ohne dich! «
Er drückte sie noch einmal fest, dann fasste er sie bei den Schultern und schob sie ein Stück zurück.
» Du hast dich den ganzen Abend über bewunderungswürdig in Beherrschung geübt. Keine Frau ist so tapfer wie du, Lizzie. «
» Wie kannst du so was sagen, nachdem ich dein ganzes Hemd vollgeheult habe? « Sie lachte unter Tränen und wischte sich mit dem Handrücken die Wangen ab. » Schau doch nur, es ist wirklich völlig durchnässt. «
» Hauptsache, du konntest dich einmal richtig ausweinen. «
» Da siehst du es. Was ist daran tapfer? Ich fühle mich schrecklich! So verzagt und verängstigt wie ein kleines Kind. «
» Wie solltest du dich sonst fühlen nach dieser wochenlangen Ungewissheit und der Nachricht, die ich dir heute brachte? « Er schüttelte nachsichtig den Kopf. » Sei nicht so streng mit dir, Lizzie. Tapfer wird der Mensch nicht durch Furchtlosigkeit, sondern dadurch, dass er sich auch von der schlimmsten Angst nicht unterkriegen lässt. «
» Ach William, du bist wirklich lieb, aber auch bei dieser Auslegung entspreche ich nicht dem Ideal. « Sie zögerte und suchte nach Worten. » Weißt du, wenn Duncan… wenn er… wenn ich nur wüsste, was mit ihm ist. Dann könnte ich… « Sie brachte es nicht über die Lippen.
» Du könntest um ihn trauern. « Er kleidete es in Worte. »
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