Wind der Gezeiten - Roman
Vergleich zu ihrer Angst um Duncan kaum ins Gewicht fiel. Immerhin bestand ja die Gewissheit, dass Felicity von ihrer Verwundung, so schlimm die auch gewesen sein mochte, genesen war. Ob es ihr trotz der Kriegswirren gelungen war, Niklas wiederzusehen?
Elizabeth beugte sich über Johnny, der zusammengerollt wie ein schlafendes Hündchen in der Hängematte lag, den Kopf mit den zerwühlten dunklen Locken in die Armbeuge gedrückt. Seine Lippen zuckten leicht im Schlaf, er schien lebhaft zu träumen. Elizabeth hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn, bevor sie zu der Wiege hinüberging, den Mückenschleier zur Seite schlug und Faith betrachtete. Die Kleine lag auf dem Bauch, die Beinchen unter den Körper gezogen und das Hinterteil in die Luft gereckt. Auch Johnny hatte oft so geschlafen, wie ein kleiner Käfer. Elizabeth fühlte sich von heißer Liebe durchströmt, sie musste der Versuchung widerstehen, das Baby aus der Wiege zu heben und es an sich zu drücken, um seine Nähe und Wärme zu spüren. Stattdessen strich sie sacht mit den Fingerspitzen über die weiche Wange und unterdrückte ein Seufzen, als ein rundliches Ärmchen unter dem Körper hervorrutschte und Faith sich mit zufriedenem Schmatzen den Daumen in den Mund schob. Die Kleine hatte damit angefangen, nachdem Zena als Amme ausgefallen war und Elizabeths Milch nicht ausgereicht hatte, um sie richtig satt zu machen. Bis dann die neue Amme zur Verfügung gestanden hatte, war das Daumenlutschen bei Faith schon zu einer festen Angewohnheit geworden. Die Amme, eine stille, mütterliche Schwarze namens Claudine, die schon vielen Grand Blancs gedient hatte, wollte Faith eine bittere Flüssigkeit auf die Daumen streichen, doch das hatte Elizabeth, nachdem sie probehalber davon gekostet hatte, rigoros abgelehnt. Sie würde ihr kleines Mädchen nicht mit einer solchen Tinktur quälen. Außerdem war ihr wieder eingefallen, wie die Köchin von Raleigh Manor einmal erzählt hatte, dass sie als Kind ebenfalls am Daumen gelutscht habe. Offensichtlich hatte es sie weder entstellt noch ihr sonst wie geschadet, also warum sollte sie Faith daran hindern, wenn es der Kleinen doch half, besser zu schlafen und sich schneller zu beruhigen?
Mit einem letzten Blick auf die Kinder verließ sie die Kammer und ging hinaus auf die Terrasse, wo die Männer Zigarren rauchend an der Brüstung lehnten und über Plantagenwirtschaft sprachen. Wieder fiel Elizabeth auf, wie ähnlich William und Henri einander waren, nicht nur äußerlich. Fast hätten sie Brüder sein können. William war ein paar Jahre jünger und einen halben Kopf größer als Henri, doch in ihrer Art zu reden und zu gestikulieren glichen sie einander fast so sehr wie in ihren Anschauungen. Angeregt in ihr Gespräch vertieft, bemerkten sie Elizabeth erst, als sie neben William ans Geländer trat.
» Willst du ein bisschen frische Luft schnappen? « , fragte William. Rasch wechselte er die Zigarre von der Linken in die Rechte, damit der Rauch ihr nicht ins Gesicht stieg.
Sie nickte nur matt. Ihr war nicht nach Reden zumute. William merkte es und ließ sie in Ruhe. Wie schon bei früheren Gelegenheiten gewahrte sie sein ausgeprägtes Gespür für ihre Stimmungen. Niemand war so einfühlsam und höflich wie er. William war ein Gentleman, wie er im Buche stand. Sie wusste genau, wie viel Arbeit er auf Summer Hill hatte. Trotzdem hatte er alles stehen und liegen lassen und war auf das nächstbeste seetüchtige Boot gestiegen, dessen Besitzer zweifellos viel Geld dafür verlangt hatte, mit ihm zwischen den Antillen herumzusegeln. Wieder einmal hatte William weder Kosten noch Mühen gescheut, um ihr zu helfen, und tief in ihrem Inneren ahnte sie, dass er dafür vielleicht noch andere Motive hatte als nur reine Hilfsbereitschaft. Gegen ihren Willen seufzte sie tief auf und umspannte mit beiden Händen die Brüstung, weil sie mit einem Mal das Bedürfnis verspürte, sich festzuhalten. In ihrer Mutlosigkeit hätte sie sich gern an William gelehnt. Sie dachte an die Umarmung heute am Strand, wie beschützt und geborgen sie sich für diese wenigen kostbaren Momente gefühlt hatte. Eine schmerzliche Sehnsucht nach Duncan erfasste sie, nach der innigen Nähe, die sie in seinen Armen immer empfunden hatte. Mit seinen Umarmungen hatte er ihr mehr gegeben als nur Sicherheit– sie hatte sich selbst viel stärker gefühlt, manchmal sogar unbesiegbar. So, als könnte sie alles erreichen, wenn er nur bei ihr war. Was hätte sie darum
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