Wind der Gezeiten - Roman
Die Kleine meldete sich brabbelnd und wurde dann immer lauter, bis man sie nicht mehr ignorieren konnte. Elizabeth stand auf und nahm das Baby aus der Wiege. Sie herzte und küsste es, und Faith dankte es ihr mit einem verschlafenen Glucksen. Die Windel war rettungslos durchfeuchtet, weshalb Elizabeth sie rasch gegen eine trockene auswechselte und sich anschließend ein dünnes Baumwollgewand überstreifte, bevor sie mit dem Kind in den Armen auf leisen Sohlen das Haus verließ und durch die aufziehende Morgendämmerung zu den Hütten des Gesindes hinüberging. Deirdre und die Amme teilten sich mit zwei Mägden eine Hütte. Die Frauen schliefen noch, als Elizabeth leise die Tür öffnete, doch die Amme erwachte sofort, kaum dass Elizabeth den Raum betreten hatte. Der langjährige Umgang mit Säuglingen hatte ihr einen sehr leichten Schlaf beschert. Wortlos entblößte sie die Brust und legte die Kleine an, während Elizabeth sich schweigend wieder zurückzog. Faith würde nach dem Stillen noch einmal schlafen. Das tat sie immer, meist zwei oder drei Stunden, bevor sie endgültig und hellwach den Tag begrüßte. Die Amme würde sich nach dem Aufwachen um sie kümmern. Zeit genug für Elizabeth, sich ebenfalls noch einmal hinzulegen, bevor die ersten Hähne krähten, was sicher nicht mehr lange dauern würde. Meist gab das Federvieh kaum länger Ruhe als Faith, und hatte erst ein Hahn mit seinem Geschrei angefangen, fielen die übrigen bald ein.
Auf dem Rückweg zum Haus erwachten ringsum die ersten Bewohner der Tabakfarm – einzelne Vögel erhoben zwitschernd ihre Stimmen. In den Bäumen und Sträuchern, die das Herrenhaus gegen die Hütten und Felder abschirmten, begann das melodische Morgenkonzert. Die nachtaktiven Tiere zogen sich derweil in ihre Höhlen und Nester zurück. Vor Elizabeth huschte ein Tausendfüßler über den Weg, daumendick und fast so lang wie ihre Hand. Vor dem Gift dieses Krabbeltiers musste man sich in Acht nehmen, sein Biss war sehr schmerzhaft. Abgesehen davon gab es nicht viele gefährliche Tiere auf Basse-Terre, bloß im Wasser musste man sich vorsehen, etwa vor den schwarzen Seeigeln. Einer davon war einmal als Beifang bei Jerry und Oleg im Fischernetz gelandet und hatte Jerry ein äußerst unangenehmes Andenken beschert. Oleg hatte dem armen Kerl eine Reihe hässlicher Stacheln herausziehen müssen, und Jerry hatte laut fluchend bekundet, auf keinen Fall mehr tiefer als bis zu den Knien ins Wasser zu steigen.
Elizabeth hätte sich gern die Unterwasserwelt vor der Küste einmal näher angesehen. Jerry hatte gemeint, es gebe ausgedehnte Riffgärten mit schönen Korallen, die man bei klarem Wasser sogar vom Boot aus sehr gut sehen könne. Doch vorläufig verzichtete sie lieber auf das Tauchen, zum einen, weil sie ihre Gastgeber nicht gegen sich aufbringen wollte, zum anderen, weil sie fürchtete, wie beim letzten Mal damit unberechenbares Unheil heraufzubeschwören.
Von vager Unrast getrieben, stieg Elizabeth ein Stück den Hügel hinauf, statt zum Haus zurückzugehen. Der schmale Pfad führte an den Feldern vorbei bergan, zu beiden Seiten gesäumt von teilweise schulterhoch wachsenden Tabakpflanzen, deren gerippte Blätter groß wie Schaufeln waren. Die kelchförmigen rosa Blüten, die sich erst in den Abendstunden weit öffneten, wirkten im Morgengrauen matt und farblos. Mit den Stängeln und Blättern bildeten sie ein raschelndes Meer, das sich nur schwach gegen den immer noch dunklen Himmel abhob.
Als Elizabeth das freie Gelände oberhalb der Pflanzung erreichte, fuhr ihr der Wind ins Haar und blähte ihre Röcke. Um diese Tageszeit war er fast kühl. Später, wenn die Sonne am Himmel stand, würde sie alle Feuchtigkeit aufsaugen, und die Hitze würde sich überall ausbreiten. Hier in Küstennähe ging jedoch häufig ein Wind, weshalb die Wärme meist gut erträglich blieb und sich nur selten in jene brütende Schwüle verwandelte, die an manchen Tagen schwer über dem Land lastete.
Elizabeth gelangte zu der von Felsbrocken übersäten Stelle, von der aus sie immer Ausschau nach eintreffenden Schiffen hielt. Über den Bergen zeigte sich der erste rötliche Schimmer, der rasch intensiver wurde. Im Osten bildete sich ein glühender Saum, der Himmel erhellte sich zusehends. Das Grau wurde rosig und begann zu weichen, bis ein noch diffuses, kaum erkennbares Blau an seine Stelle trat. Elizabeth saß auf dem Felsen und betrachtete mit zurückgelegtem Kopf den Morgenhimmel, ohne die
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