Wind der Gezeiten - Roman
leise.
» William. « Annes Stimme klang sanft. » Celia wollte es auch, genau wie du. Und für sie war es eine wirklich schlimme Kränkung, dass du es hinterher bereut hast. « Kopfschüttelnd fuhr sie fort: » Guter Gott, dass ich selbst die Zeichen nicht gesehen habe! Und dabei gab es sie. Zuhauf sogar. Und das auch früher schon. Nun gut, ich war nach Mutters Tod lange gemütskrank, da konnte ich auf solche Dinge nicht achten, und dann war ich all die Monate fort. Aber in den letzten sechs Wochen… « Erneut schüttelte sie den Kopf. » Ich schätze, ich war genauso blind wie du. «
» Anne, könntest du vielleicht endlich aufhören, in Rätseln zu sprechen, und mir einfach sagen, was zum Teufel du meinst? «
» Aber natürlich. « Sie lächelte leicht. » Celia liebt dich, William. Das tat sie, glaube ich, schon immer. «
» Woher willst du das wissen? «
» Ich weiß es eben. Und ich weiß noch mehr. « Sie hielt kurz inne, um ihren nächsten Worten mehr Nachdruck zu verleihen. » Du liebst sie ebenfalls. «
» Das ist Blödsinn « , entfuhr es ihm. » Du hast selbst gesagt, dass sie wie eine kleine Schwester ist. «
» Für mich « , korrigierte Anne ihn. » Für dich ist sie das schon lange nicht mehr. Du solltest dir ein paar Wahrheiten eingestehen, Willy. «
» Entschuldige mich. Ich gehe sie jetzt suchen. « Er hatte sich bereits abgewandt, um zu den Ställen zu laufen.
Der Schankraum im Chez Claire war wie üblich berstend voll, die Luft zum Schneiden dick und von Rauchschwaden verhangen. Es stank nach Tabakqualm, Schweiß und vergossenem Rum. In der Ecke tönte eine Fiedel, ein paar Gäste tanzten mit Claires Mädchen zu der munteren, ohrenbetäubend lauten Musik. William ließ rasch den Blick durch den Raum schweifen und stellte enttäuscht fest, dass Celia nicht hier war. Er wollte die Schenke gerade wieder verlassen, als der große Franzose nach ihm rief. Er hieß, wenn William sich recht entsann, Jacques– ein Koloss von einem Mann mit einem von Narben verwüsteten Gesicht, der Claire auf Schritt und Tritt folgte, wenn sie unterwegs war. Der Mann kämpfte sich durch das Gedränge und schob dabei rücksichtslos jeden beiseite, der ihm im Weg war.
» Noringham! « , brüllte er durch den Lärm. » Kommt mit rauf! Mademoiselle Claire will Euch sprechen! «
» Oh nein « , wehrte William ab. » Ich suche nur jemanden. «
» Deshalb will sie Euch ja sprechen. «
» Ist Celia hier? « , fragte William unumwunden.
Der Franzose nickte. Mit klopfendem Herzen folgte William ihm die Treppe hinauf. Jacques pochte kurz an eine der Türen, die von dem oberen Flur abgingen, worauf Claires knappe Aufforderung zum Eintreten ertönte. Williams Hoffnung, Celia in der Kammer vorzufinden, zerstob im nächsten Augenblick. Sie war nicht da, Claire war allein. Die Französin war ganz in Weiß gekleidet. Mit dem offenherzigen Gewand und dem wasserfallartig arrangierten roten Lockengeriesel sah sie wie eine verruchte Quellnymphe aus. Ihre Aufmachung stand in auffälligem Gegensatz zu ihrer Umgebung– die Kammer war schlicht und unprätentiös eingerichtet, mit einem schmalen Bett, einem zierlichen Schminktisch und einem Lehnstuhl, auf dem Claire saß, ein Buch auf den Knien.
» Ich fragte mich schon, wann du kommst, mon ami. «
» Wo ist sie? «
» Ah, aber nun setz dich doch erst einmal! « Sie deutete auf den Hocker vor dem Schminktisch.
» Ich stehe lieber. «
» Warum so unhöflich? « Sie blickte schmollend zu ihm auf. » Bin ich eine so schlechte Gastgeberin? «
» Ich möchte zu ihr. «
» Und ich möchte zuerst mit dir reden. « Claire nickte Jacques zu, der wie ein Fels im Türrahmen stehen geblieben war. » Nimm seinen Hut und sein Wams und schließ dann die Tür. «
Widerwillig händigte William dem Franzosen Barett und Jacke aus und ließ sich voller Unbehagen auf dem Schemel nieder. Claire lächelte ihn kokett an.
» Du warst lange nicht mehr hier, Guillaume. «
Die Art, wie sie seinen Namen auf Französisch sagte, trieb ihm die Röte ins Gesicht. Er war nicht in der Lage, auf geschäftsmäßiger Ebene mit ihr zu sprechen, und für eine freundschaftliche Unterhaltung kannte er sie nicht gut genug. Erst dreimal hatte er sie im Laufe der Jahre in ihrem mit goldenen Troddeln und scharlachroten Samtbordüren überladenen Hurengemach aufgesucht, das am anderen Ende des Flures lag und über eine dunkle Hintertreppe zu erreichen war. Hinterher hatte ihn jedes Mal Scham erfüllt, und es hatte
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