Wind der Gezeiten - Roman
doch Duncan stützte sie immer wieder und versuchte, so gut es ging, mit dem kleinen Windlicht, das er bei sich trug, den schmalen Trampelpfad auszuleuchten. Sie umgingen das Hafenviertel und bewegten sich abseits der Gassen und Häuser. Am Rand der Bucht, hinter ein paar morschen Lagerschuppen, wartete John Evers mit dem Boot. Er hatte es auf den Strand gezogen und hockte auf einem Felsklotz.
» Wurde auch Zeit « , brummte er.
Duncan half Elizabeth ins Boot, bevor er und John es gemeinsam ins Wasser schoben und selbst hineinstiegen. John nahm sofort die Riemen und ruderte zügig drauflos, während Duncan die Laterne hielt, zum Hafen hin abgeschirmt, damit sie von dort aus nicht gesichtet werden konnten.
» Hast du die Elise schon ins Schlepptau gelegt? « , fragte Duncan.
» Aye, das hab ich « , bestätigte John. » Die Männer sitzen schon in der Schaluppe. « Sein hageres, von Falten durchfurchtes Gesicht sah im Widerschein des Windlichts aus wie in Stein gehauen, und seine kräftigen Schultern und Arme bewegten sich mit der Präzision eines Uhrwerks.
Die Mastleuchten der im Hafen ankernden Schiffe blieben hinter ihnen zurück, während sie auf das nächtliche Meer hinausfuhren. Der Wind hatte an Stärke zugenommen, er trieb schäumende Wellen gegen das Boot, es bewegte sich auf und nieder und wurde von wirbelnder Gischt umhüllt. Binnen kürzester Zeit waren sie bis auf die Haut durchnässt.
Als sie endlich die Elise vor sich liegen sah, stöhnte Elizabeth erleichtert auf. Eine Zeit lang hatte sie gefürchtet, das Schiff wäre abgetrieben worden oder John wäre daran vorbeigerudert, weit hinaus auf die offene See. Unter ihrem Umhang presste sie sich beide Hände ins Kreuz, dorthin, wo es am meisten schmerzte. Diese Wehe dauerte länger als die vorangegangenen, Elizabeth spannte sich an, während der brausende Wind ihr gepeinigtes Ächzen übertönte. Duncan saß mit dem Rücken zu ihr, er bemerkte nichts davon, doch John Evers warf ihr einen besorgten Blick zu. Er legte sich stärker in die Riemen, sie hatten das Schiff fast erreicht.
» Geh an Backbord längsseits, das bringt uns vielleicht noch ein paar Minuten « , befahl Duncan, worauf Evers gehorsam um das Schiff herumruderte, zu der dem Land abgewandten Seite der Elise.
Mit einem Schaben stieß das Boot gegen den Rumpf der Fregatte. Von oben lugten Gesichter über die Reling, eine Strickleiter wurde herabgeworfen. Duncan erhob sich und ergriff sie, und als er die freie Hand ausstreckte, um Elizabeth aufzuhelfen und sie zur Leiter zu ziehen, blähte eine plötzliche Bö seinen Umhang und wehte ihn ihr ins Gesicht. Der schwere Stoff verschluckte das schmerzvolle Stöhnen, das die nächste Wehe ihr entlockte. Einige Augenblicke krampfte sie beide Hände um die Tampen des Fallreeps, während das Boot unter ihr schwankte und Duncan sie von hinten mit beiden Armen hielt und stützte.
» Schaffst du es? « , rief er.
Sie nickte und machte sich schwerfällig an den Aufstieg, Duncan dicht hinter sich. Oben angekommen, wurde sie von Oleg in Empfang genommen, der sie unter den Schultern fasste und sie über die Reling hob, als wöge sie nicht mehr als eine Feder. Elizabeth hielt mit beiden Händen ihren Umhang fest und taumelte ein paar Schritte über das Deck, bevor sie von festen Händen ergriffen und gehalten wurde.
» Mylady! Dem Himmel sei Dank « , rief Deirdre. Der Wind zerzauste ihr Haar, ihre Röcke umwehten sie, doch sie stand sicher auf den Planken und stützte Elizabeth. Gleich darauf war auch Pater Edmond bei ihr, und zu zweit führten sie sie zur Kapitänskajüte. Während sie in den von Kerzenlicht erfüllten niedrigen Raum stolperte, rechts und links gehalten von Deirdre und Edmond, hörte sie hinter sich Duncan das Kommando übernehmen.
» Anker lichten! « , rief er mit befehlsgewohnter Stimme. » Beiboot hochziehen! Und macht sofort jede einzelne verdammte Laterne an Bord aus! Und dann pullt! « Seine ganze Aufmerksamkeit galt nun der Elise. Er musste das Schiff aus der Bucht bringen, alles andere war unwichtig. Noch waren sie in Reichweite der Festungsgeschütze, ein einziger gut gezielter Treffer konnte sie alle miteinander auf den Grund des Meeres befördern. Duncan hatte Elizabeth erklärt, dass dies der gefährlichste Moment ihrer ganzen Flucht sei. Er traute Doyle keine Handbreit über den Weg.
» Vermutlich haben seine Kanoniere das Schiff schon die ganze Zeit im Visier. Wenn es nach ihm geht, liegt die Elise noch vor dem
Weitere Kostenlose Bücher