Wind der Gezeiten - Roman
nächsten Stundenschlag auf dem Meeresgrund, und wir ebenfalls. Eine bessere Gelegenheit, uns beide gleichzeitig mundtot zu machen, bekommt er nie wieder. Wie ich ihn einschätze, wird er sie nutzen– genau im Moment des Auslaufens. «
In der Kajüte saßen Anne und Felicity an dem großen Tisch, auf dem Duncan seine Seekarten auszubreiten und seine Mahlzeiten einzunehmen pflegte. Sie sprangen auf, als Elizabeth hereinkam.
» Lizzie, da bist du ja! « , rief Felicity erleichtert. » Gepriesen sei Gott der Herr! « Sie hatte Johnny auf dem Arm, der noch blass und schwach von dem überstandenen Fieber war, aber bereits wieder regen Anteil an seiner Umgebung nahm.
» Mommy! « Er streckte die Ärmchen nach ihr aus, doch Elizabeth konnte ihn nicht nehmen. Sie spürte die nächste Wehe herannahen. Mit zusammengebissenen Zähnen stützte sie sich an der Wand ab.
» Mylady? « , fragte Deirdre beunruhigt.
» Es geht mir gut « , sagte Elizabeth mit gepresster Stimme. Deirdre musterte sie zweifelnd und wollte etwas sagen, doch dann kam Sid hereingestürzt und löschte die von der Decke hängende Öllampe, worauf es schlagartig dunkel in der Kajüte wurde.
» Setzt euch alle hin, damit niemand fällt. «
» Warum machst du das Licht aus? « , fragte Felicity entsetzt. Sie hasste die Dunkelheit, hatte regelrechte Angstzustände, wenn bei Nacht keine Kerze in ihrer Nähe brannte.
» Wir dürfen kein Ziel bieten « , kam es knapp zurück, dann war er wieder draußen. Das auf den Wellen schwankende Schiff setzte sich behäbig in Bewegung, gezogen von den Schleppleinen, die Evers am Bug der Elise hatte festmachen lassen.
» Pullt! « , hörte sie Duncan ein ums andere Mal brüllen. » Pullt! «
Sie spürte die Gefahr, eine körperlose Drohung, doch zugleich so präsent wie der rußige Gestank der Öllampe, die Sid gelöscht hatte, oder wie das laute Knarren der Taue und die erregten Rufe an Deck. Dann ertönte ein zischendes Heulen, dicht über ihr an Deck, unmittelbar gefolgt von einem krachenden Geräusch wie von berstendem Holz. Das Schiff erbebte unter einem harten Schlag. Die Frauen in der Kajüte schrien entsetzt auf, oben an Deck brüllten die Männer.
» Pullt! « , schrie Duncan abermals. » Pullt! «
Ein weiteres Mal war das tödliche Singen einer Kanonenkugel zu hören, begleitet von dem dumpfen, entfernten Knall des Schwarzpulvers an Land, mindestens eine Viertelmeile weit weg. Doch der Einschlag blieb aus. Diesmal hatten sie vorbeigeschossen.
Elizabeth klammerte sich an den geschnitzten Aufsätzen der Kommode fest, in der Duncan seine Wäsche und persönlichen Habseligkeiten aufbewahrte. Jetzt befanden sich auch ihre und Johnnys Sachen darin. Nicht einmal bei heftigem Wellengang konnte das Möbelstück verrutschen, weil es am Boden befestigt war. Dieser belanglose Gedanke kam ihr in den Sinn, während sie auf den nächsten Schuss wartete. Doch er kam nicht. Die Rufe an Deck wurden leiser, nur Duncan war noch zu hören. Er erteilte seinen Männern Befehle. Elizabeth wusste, dass er jetzt oben auf der Kommandobrücke stand, direkt über ihr auf dem Achterschiff. Er konnte nichts sehen, genauso wenig wie sie, doch sie bezweifelte nicht, dass er die Fregatte auch blind navigieren konnte. Er war auf Schiffen groß geworden, die Elise war viele Jahre lang sein einziges Zuhause gewesen und die karibische See die Welt, in der er lebte. Sie hörte das Brausen des Windes und das Knattern von Segeltuch, und da wusste sie, dass Duncan sie in Sicherheit bringen würde. Sie waren noch einmal davongekommen.
Die darauffolgende Wehe war die bisher schlimmste. Elizabeth schrie auf, als der Schmerz sie durchfuhr.
» Lizzie? Meine Güte, Lizzie, was ist los mit dir? « Das war Felicity. Ihre Stimme klang schrill vor Besorgnis. » Deirdre, was hat sie? Sie wird doch nicht… «
In der Dunkelheit stießen Hände gegen sie. Deirdre umfasste sie sanft.
» Mylady, Ihr solltet Euch hinlegen. « Deirdre zog sie an der Wand entlang zu dem Alkovenbett. Elizabeth ließ sich auf die Matratze sinken.
» Wann haben die Wehen angefangen, Mylady? « Deirdre betastete ihren Leib.
» Am Nachmittag « , sagte Elizabeth matt. Die ganze Zeit hatte sie es gut aushalten können. Die Abstände waren lang und unregelmäßig gewesen, sodass sie zuerst sogar gehofft hatte, es würde wieder aufhören. Doch vorhin, während der Überfahrt zum Schiff, hatte der Schmerz mit solcher Wucht eingesetzt, dass es keinen Zweifel mehr gab– die Geburt
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