Wind der Gezeiten - Roman
langfädiges spanisches Moos herabhing. Als Sitzplatz diente ihm ein umgedrehtes leeres Fass. Das Speisebrett auf den Knien, berichtete er voller Begeisterung von dem französischen Gottesmann, der vor Jahren auf Dominica gelebt hatte. Nebenher schlang er achtlos das Essen hinunter. Deirdre bemühte sich, seinen Erläuterungen zu folgen, obwohl sie darauf brannte, ihm ihre eigenen Neuigkeiten mitzuteilen. Mit kaum bezähmter Ungeduld hörte sie an, was er zu erzählen hatte.
» Dieser Pater hat in jahrelanger Arbeit eine Abhandlung über die karibische Sprache und die Gebräuche der Eingeborenen verfasst. Leider nicht auf Latein, wie ich gehofft hatte, sondern auf Französisch. Was ich dummerweise überhaupt nicht kann. «
» Miss Felicity beherrscht es wie ihre Muttersprache. Ihre Kinderfrau war Französin. Allerdings wird sie wohl keine Zeit mehr finden, es für dich zu übersetzen, denn es soll schon nächsten Samstag auf die Reise gehen, und wie ich sie kenne, wird sie jeden freien Augenblick mit Packen zubringen. « Atemlos hielt sie inne und beobachtete Edmond angespannt. Wie er die Nachricht über die bevorstehende Abreise wohl aufnahm? Ob er sich vielleicht noch besann und nach Europa zurückwollte? Doch Edmond war zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, und zu denen gehörte eine Rückreise nach Irland offenbar nicht.
» Sie könnte es momentan sowieso nicht übersetzen « , meinte er. » Denn ich habe das Glossar gar nicht. Jedenfalls noch nicht. Allerdings hege ich die Hoffnung, eine Abschrift davon in meinen Besitz bringen zu können. Nach diesem Pater– sein Name war übrigens Breton– kamen zwei weitere französische Geistliche nach Dominica, und ich bin zuversichtlich, dass er ihnen eine Kopie seines Breviers überlassen hat. Einer von ihnen soll noch immer hier leben, südlich von hier, in einem Dorf, wo es sogar eine richtige Kirche geben soll. Ich werde wohl bald dort hingehen und mich erkundigen, vorausgesetzt, es ist nicht zu weit. Aber die Insel soll ja nicht sehr groß sein, vermutlich ist es höchstens ein Tagesmarsch. Einige Wörter der Sprache kenne ich schon, aber ich will sie richtig beherrschen. « Er breitete enthusiastisch die Arme aus. » Wenn ich es schaffe, die Sprache der Kariben zu erlernen, kann ich sie auch zum wahren Glauben bekehren! Deirdre, ich brenne förmlich darauf, mich dieser Aufgabe zu widmen! «
Deirdre verfluchte sich stumm, ihn überhaupt erst darauf gebracht zu haben.
» Edmond, hast du eigentlich gerade gehört, was ich gesagt habe? « , fragte sie drängend.
» Was denn? « Ein wenig erstaunt blickte er sie an.
» Dass die Elise nächsten Samstag in See sticht. Noch können wir uns entscheiden mitzufahren. Mylady hat mich vorhin wieder gefragt, was wir machen wollen, du und ich. Ob wir mitfahren oder hierbleiben. «
» Natürlich bleiben wir hier. « Edmond sagte es voller Überzeugung. Er sah sie dabei an, als sei es ihm unerklärlich, wieso sie immer wieder von dem Thema anfing. » Hier liegt meine Bestimmung! Und das verdanke ich allein dir. « Seine Augen leuchteten auf. » Hättest du mir nicht aufgezeigt, welche Möglichkeiten sich in diesem heidnischen Land einem aufrechten Gottesmann bieten, würde ich heute noch allein und verlassen im Dschungel von Barbados sitzen. «
So gesehen hatte er natürlich recht. Sein derzeitiges Leben war deutlich besser und vor allem ungefährlicher als das, was er vorher geführt hatte– er musste nicht hungern oder in Knechtschaft leben, wurde nicht von der Obrigkeit verfolgt und durfte unbehelligt seinen Glauben ausüben. Kurzum, er war ein freier Mann. Dennoch hätte er, davon war Deirdre nach wie vor überzeugt, in seiner Heimat ein besseres Leben haben können. Auch wenn er wenig Gutes über seine Familie zu sagen hatte, war Deirdre sicher, dass man den tot geglaubten Sohn freudig aufnehmen würde, sobald er heimkehrte. Doch davon wollte Edmond nichts wissen, also hatte sie es aufgegeben, mit ihm darüber zu diskutieren.
Seufzend blickte sie ihn an. Sein schmales Gesicht mit den jungenhaften Zügen, seine nie versiegende Begeisterungsfähigkeit, seine arglose Güte– die sanfte Sehnsucht in ihrem Inneren weitete ihr die Brust, bis es wehtat. Er war so stark und gleichzeitig so schwach, und er rührte auf eine Weise an ihr Herz, die sie unentrinnbar zu ihm hinzog. Wie gern hätte sie ihn umarmt und die kleine Sorgenfalte von seiner Stirn geküsst! Dabei waren ihre Gefühle alles andere als
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