Wind der Gezeiten - Roman
nicht ganz so anstrengend. Anne war von ruhigem, gleichmäßigem Wesen, immer freundlich und gefasst. Nie fuhr sie aus der Haut, nie schien sie sich zu ärgern. Lizzie war oft der Kragen geplatzt, sie konnte jederzeit gewittrige Stimmung verbreiten, wenn ihr etwas nicht passte– zumeist im Zusammenhang mit Duncan, der es jedes Mal mühelos fertigbrachte, sie zur Weißglut zu treiben. Anne war da ganz anders, zuweilen sogar langweilig, aber das hatte sich bereits gebessert. Hatte sie am Anfang der Reise manchmal noch stundenlang tatenlos und in Gedanken versunken in der Kajüte gesessen, war sie mit der Zeit immer lebhafter geworden. Sie hatte angefangen zu sticken und ein Reisetagebuch zu führen– wobei Felicity sich ernsthaft fragte, was es jeden Tag dort hineinzuschreiben gab–, und sie kümmerte sich neuerdings um die kranken Matrosen.
Felicity saß wie auf heißen Kohlen, bis Anne endlich wieder die Kajüte betrat.
» Stell dir vor, Anne! Ich habe die Küste von Europa gesehen! Wir sind bald da! «
Anne nickte nur flüchtig, als sei es kein besonderer Grund zur Freude, dass ihre Reise bald ein Ende nehmen würde. Felicity fühlte Ärger in sich aufsteigen, weil Anne sich ausgerechnet diesen euphorischen Augenblick aussuchen musste, um ihrem pessimistischen Gemütszustand freien Lauf zu lassen. Doch dann sah sie die Besorgnis in der Miene der Freundin.
» Was ist denn los? « , fragte sie verunsichert.
Anne wischte sich mit einem Tuch die Hände ab, und zu ihrem Schrecken sah Felicity, dass der Stoff mit Blut gesprenkelt war.
Duncan legte den Zirkel, mit dem er eben noch gearbeitet hatte, abrupt auf den Kartentisch zurück. Auch er blickte Anne fragend an.
» Peter? « , wollte er wissen.
Anne nickte bekümmert. Felicity biss sich auf die Lippe. Peter war der Schiffsjunge, der Einzige von der Besatzung, der ihr keine Angst einjagte, wenn sie ihn sah. Er war von allen an Bord derjenige, der– neben John Evers, dem Bootsmann– am häufigsten nach achtern kam, denn er war für die Sauberkeit in der Kapitänskajüte zuständig. Er wischte die Bodenplanken, kümmerte sich um die Wäsche des Kapitäns und servierte die Mahlzeiten, die der Koch in der mittschiffs befindlichen Kombüse zubereitete. Er war ein munterer Bursche von dreizehn Jahren, mit zahlreichen Sommersprossen und störrischem hellem Haar. Vor zwei Jahren war er von daheim ausgerissen, weil er die Prügel von seinem trunksüchtigen Stiefvater nicht länger ausgehalten hatte, und Duncan hatte ihm auf der Elise ein neues Zuhause gegeben. John Evers hatte den Jungen unter seine Fittiche genommen; für den Bootsmann war er der Sohn, den er selbst nie gehabt hatte.
» Ich habe ihm heiße Brustwickel gemacht und ihm einen Kräutersud eingeflößt « , sagte Anne. » John ist jetzt bei ihm. « Ihr Blick war traurig, und ihre Stimme zitterte ein wenig. Felicity begriff, dass das Leben des Jungen in Gefahr war. Sie hatte ihn häufig husten hören in den letzten Wochen, und sie erinnerte sich, dass Duncan ihn des Öfteren in sein Quartier geschickt hatte, damit er sich ausruhte. Ihr fiel nun auch auf, dass er seit mindestens drei Tagen überhaupt nicht mehr an Deck gewesen war.
» Wie steht es? « , fragte Duncan rundheraus.
Anne schüttelte nur den Kopf. Felicity schluckte entsetzt, mit einem Mal stand ihr wieder mit bestürzender Klarheit vor Augen, welche Opfer eine Überfahrt über den Atlantik fordern konnte. Auf ihrer ersten Seereise vor drei Jahren hatte sie nahezu täglich mit ansehen müssen, wie Matrosen, die während der Fahrt gestorben waren, auf See ihr kaltes und einsames Grab gefunden hatten. Niklas hatte gemeint, das sei nun mal so, es lasse sich nicht verhindern, ebenso wenig wie die Bestrafungen. Häufig hatte er es für nötig befunden, unbotmäßige Besatzungsmitglieder an den Mast zu binden und auszupeitschen. Das, so hatte er ihr erklärt, sei eben das Leben auf einem Schiff. Ungehorsam, Prügeleien, Messerstechereien, Diebstahl– irgendwer verstieß immer gegen die Regeln, und wenn man als Kapitän nicht mit allen Mitteln die Ordnung aufrechterhielt, hatte man beizeiten eine Meuterei am Hals. Felicity hatte das Klatschen der Neunschwänzigen Katze gehasst, fast noch mehr als die gequälten Aufschreie der geschundenen Übeltäter, doch sie hatte es als gottgegebene Tatsache hingenommen. Erst in diesem Moment, da Anne mit dem blutbesprenkelten Tuch vor ihr stand, wurde Felicity zum ersten Mal bewusst, dass es auf der Elise
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