Wind der Gezeiten - Roman
bisher weder eine Auspeitschung gegeben hatte noch eines jener deprimierenden Seebegräbnisse, wie sie auf der Eindhoven an der Tagesordnung gewesen waren. Stirnrunzelnd überlegte sie, woran das liegen mochte. Die Eindhoven war sehr viel größer als die Elise, und die Mannschaft des holländischen Westindienfahrers bestand aus sehr viel mehr Männern– vielleicht hing es damit zusammen. Sie beschloss, Duncan einmal danach zu fragen, doch dann erkannte sie von allein den wahren Grund: Die Männer auf der Elise waren frei. Keiner von ihnen war zur Arbeit an Bord gezwungen worden, wie es auf der Eindhoven der Fall war. Duncans Männer segelten mit ihm, weil sie es nicht anders wollten und weil es das Leben war, das sie gewählt hatten. Sie waren immer noch Piraten, eine verschworene Gemeinschaft, die sich einem Anführer unterworfen hatte. Aber auch wenn sie schon lange nicht mehr mit ihm auf Kaperfahrt gegangen waren, so bekamen sie doch in ausreichendem Maße von den Erlösen seiner Handelsfahrten ab und wurden so für ihren Einsatz belohnt. Auf den großen Westindienfahrten sah es hingegen anders aus. Dort mussten die Kapitäne Presspatrouillen in die Städte entsenden, um überhaupt genügend Seeleute aufs Schiff zu bekommen. Bei Nacht und Nebel wurden gesunde junge Männer von eigens dafür angeheuerten Schlägern niedergeschlagen und entführt, und wenn sie auf hoher See zu sich kamen, blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu schuften, wenn sie essen und trinken wollten. Auch das hatte Niklas als naturgegebene Notwendigkeit dargestellt, und Felicity hatte sich bemüht, es ebenso zu sehen, doch nun, da ihr Blick auf Duncan fiel, dessen Miene Besorgnis, ja beinahe schon Verzweiflung wegen eines kranken Schiffsjungen offenbarte, kamen ihr ernstliche Zweifel, ob Niklas’ Einstellung wirklich die richtige war.
Er muss damit aufhören!, schoss es ihr durch den Kopf. Es ist nicht recht, Menschen zu so einem Leben zu zwingen!
Sie schwor sich, ihn davon zu überzeugen, die Seefahrt aufzugeben, jedenfalls die Art, wie er sie bisher betrieben hatte. Schon deshalb, weil es viel zu gefährlich war. Jeder Mensch hatte nur ein einziges Leben, und sie würde nicht zulassen, dass er seines fortwährend aufs Spiel setzte.
Wie zerbrechlich ein einzelnes Leben war, wurde zwei Tage später deutlich, als Peter starb. Anne hatte die ganze Nacht bei ihm gewacht und mehrfach versucht, das Fieber doch noch zu senken, doch der Bluthusten quälte ihn über Stunden hinweg. Sein junger Körper wehrte sich gegen das Unausweichliche, die Krämpfe schüttelten ihn, bis er schließlich noch vor Tagesbeginn zusammensank und seinen letzten Atemzug tat. Duncan trat an seine Hängematte, als es zu Ende ging; er hatte John befohlen, ihn holen zu lassen. Er nahm die Hand des Jungen und hielt sie, als Peter starb. Mit zusammengebissenen Zähnen stand er dort und blickte auf den weißblonden Haarschopf nieder, auf das vom Todeskampf gezeichnete, noch kindliche Gesicht. John hockte auf einem Schemel auf der anderen Seite, er hatte den Kopf in beide Hände gestützt, seine Schultern zuckten, während er lautlos weinte. Anne, die neben ihm stand, die Augen von der durchwachten Nacht in tiefen Höhlen, sagte kein Wort. Ihre Lippen waren zusammengepresst, ihr Blick zeigte eine Mischung aus Zorn und Trauer. Irgendwann fand Duncan die Kraft, ein kurzes Gebet zu sprechen, in das John und Anne zögernd einfielen. Der Stückmeister kam und nähte Peters Körper in die Hängematte ein, so wie es Brauch war unter den Seeleuten. Bei Beginn der Frühwache brachten sie den Leichnam an Deck und versammelten sich mittschiffs an der Reling, wo Duncan eine kurze Ansprache hielt. Dichter Nebel wallte um das Schiff und verlieh der Szenerie einen zusätzlich düsteren Anstrich. Sie hatten während der Nacht die iberische Halbinsel hinter sich gelassen und hielten in Sichtweite der französischen Küste auf die Einfahrt zum Ärmelkanal zu, wo sie bei heraufziehender Morgendämmerung von einer Nebelbank empfangen worden waren– ein waberndes, feuchtkaltes Grau, das Duncan zwang, die Segel einzuholen und in regelmäßigen Abständen das Logscheit auswerfen zu lassen, um die Elise vor Untiefen zu bewahren.
Alle Männer, die nicht zwingend arbeiten mussten, bildeten einen Halbkreis an Deck. Mit gesenkten Köpfen, die Hände gefaltet, standen sie dort und gedachten des Jungen, dessen fröhliches Lachen noch eine Woche zuvor über das Deck geschallt war und der wenige Tage
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