Wind der Traumzeit (German Edition)
entscheiden, über sein Totem. Dieses Totem repräsentierte im Wesentlichen den Urahn eines Clans, und zugleich war es die Verbindung der Aborigines zu ihren Traumzeit-Ahnen. Marrindi lehnte den Kopf gegen den mächtigen Stamm des Baums, unter dem er saß, und meditierte.
Als Tom und Nora etwa eine halbe Stunde später zurückkehrten, sah er ihnen entgegen und lächelte. Obwohl Nora ihn einerseits ein wenig fürchtete, war sie andererseits durchaus fasziniert von seinem Wesen. Er strahlte etwas aus, was man in ihrer Welt vielleicht Charisma genannt hätte, zu dieser Welt passte der Begriff Aura wahrscheinlich eher. Sie setzten sich neben den alten Mann. Tom gähnte ungezwungen und streckte entspannt die Beine von sich. Dann musterte er den Stammesältesten. »Nun, Marrindi, hast du es dir überlegt? Willst du dich nicht doch untersuchen lassen?«
Marrindi schüttelte den Kopf. »Nein, Tom. Es geht mir gut.« Sein Blick streifte Nora, die erneut den Kopf zurückgelehnt hatte und müde blinzelnd die dunkelgrünen Blätter über sich betrachtete.
Tom war seinen Augen gefolgt und runzelte die Stirn. Was sollte das nur? Immerzu schien er Nora anzusehen. Dieser spirituelle Hokuspokus begann ihm auf die Nerven zu gehen. Er setzte ein finsteres Gesicht auf und schaute Marrindi an. Der Alte bemerkte, dass er Tom offensichtlich verunsichert hatte, und schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Ich denke darüber nach, ob es nicht von Bedeutung ist, dass deine Frau hier bei uns die ersten Bewegungen ihres Kindes gespürt hat.«
Tom verkrampfte sich. Nach all dem Kummer, den Nora wegen Niklas hatte, war es eigentlich seine Absicht gewesen, ihr hier endlich Frieden und Entspannung zuteil werden zu lassen. Ganz bestimmt wollte er nicht, dass ein unheimlicher alterSchamane sie in Sorge versetzte. Er warf Nora einen raschen Seitenblick zu und registrierte, dass sie sich aufsetzte und dann interessiert vorbeugte. Sie schien nicht beunruhigt. Sie musterte Marrindi und zögerte sekundenlang. Als er sie jedoch freundlich anlächelte, begann sie zu sprechen.
»Ich finde es schön, dass ich das Kind hier bei euch zum ersten Mal gespürt habe. Es ist ein fast schon magischer Moment gewesen, unter diesem riesigen Baum zu sitzen, während der Wind in den Blättern rauschte.« Sie wurde rot, als sie bemerkte, dass Tom sie sprachlos anstarrte und Marrindis Augen durchdringend auf ihr ruhten. Einen Moment erwiderte sie seinen Blick und sah dann auf ihre Fußspitzen. »Ich habe in Deutschland sehr viel über die Kultur der Aborigines gelesen. Einiges davon werden wir wahrscheinlich nie vollkommen verstehen, aber ganz besonders gefallen hat mir die Verbindung eines jeden Mannes und einer jeden Frau zu ihrem traumzeitlichen Urahn, der den Menschen ihr Wesen, ihren Geist schenkt.« Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. »Daran musste ich vorhin denken.« Tom schaute sie an, als wäre ihr die Sonne nicht bekommen.
Nora lächelte unwillkürlich, während Marrindi ihr zunickte. Er spürte, dass hinter ihren Worten aufrichtiges Interesse für sein Volk steckte, und so legte er Tom beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Ich will es dir erklären, Tom: Jeder von uns wird in ein so genanntes Totem hineingeboren. Dieses Totem ist vielleicht ein Tier oder eine Pflanze, es kann aber auch ein anderes natürliches Phänomen sein wie der Wind, die Wolken, das Wasser oder die Sonne, denn wir sind eins mit der Natur. Um das verstehen zu können, muss man aber unsere Auffassung über die Entstehung der Menschen in der Traumzeit kennen. Es gibt dazu eine schöne Geschichte.« Ehe Tom etwas sagen konnte, fuhr der Alte fort: »Es heißt, dass vor langer Zeit zwei Schöpferische Ahnen, die Numbakulla-Wesen, auf ihrer Wanderung durch die Landschaft einige Inapertwa entdeckten, unfertige, einfache Wesen, die nur entfernt den späteren Menschen erahnen ließen. Sie waren praktisch in einer Zwischenphase – nicht Mensch, nicht Tier, nicht Pflanze. Du musst es dir in etwa so vorstellen wie einen Schmetterling, der noch in der verpuppten Raupe ruht. Die Numbakulla verwandelten diese Inapertwa nun in Menschen und gaben ihnen alles, was zu einem Menschen gehört, den Körper, das Denken und die Gefühle. Während sie sie verwandelten, vergaßen sie auch nicht, dass diese Neuerschaffungen nicht vollkommen von ihrer Urform abgetrennt werden durften, damit eine lebendige Verbindung bestehen blieb. Deshalb ist jeder Aborigine mit seiner Urform innerlich verbunden, ob es nun
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