Wind der Traumzeit (German Edition)
nebeneinander liegende Balken, die über einen reißenden Strom führen. Rutscht man mit einem Fuß ab, geht man unter. Wir brauchen beide Balken.«
Nora versuchte die Aufregung, die sie empfand, zu unterdrücken. Ihre Augen blitzten. »Aber bis jetzt gelingt es euch hier so fantastisch, dass man es aller Welt zeigen möchte. Ihr habt euch der so genannten weißen Welt nicht verschlossen, ihr treibt Handel mit ihr, und dann und wann nehmt ihr auch den medizinischen Rat der Flying Doctors in Anspruch. Jetzt ist es an uns, eure Welt kennen zu lernen, aus euren Erzählungen zu lernen. Ich weiß einfach, dass ich bestimmt nicht die Einzige bin, die von eurer Kultur, von euren Erzählungen fasziniert ist.« Wudima schüttelte den Kopf. »Es ist gut so, wie es ist. Wir wollen nicht, dass Radiosender oder Fernsehstationen über uns berichten. Touristen kämen womöglich zu jeder Zeit hier an, genauso wie sie in Sydney den Taronga Zoo besuchen. Unser Leben würde sich verändern. Das wäre nicht gut.«
Nora senkte beschämt den Kopf. »Wahrscheinlich hast du Recht.«
Wudima lächelte nachsichtig. Ihr ganzes Gesicht schien aus Falten zu bestehen. »Aber ich spreche mit Marrindi und Banggal. Wenn sie einverstanden sind, kannst du einige unserer Erzählungen zusammentragen und aufschreiben. Ob nur für dich oder auch für andere, entscheiden wir, wenn wir damit fertig sind, was meinst du?«
Noras Herz schlug schneller. »Das wäre einfach wunderbar.« Wudima nickte, stand auf und schlurfte mit der Farbschale und dem Bild in die Werkstatt.
Nora blieb allein zurück. Sie lehnte den Kopf gegen den Baumstamm und schloss die Augen. In der Ferne kreischten und lachten die Kinder am Fluss. Sie hörte, wie der warme Wind über ihr leise wispernd durch die Blätter strich. Obwohl ihr bei der Hitze im Freien manchmal der Atem stockte, fühlte sie sich an diesem Ort seltsam geborgen und zugleich frei. Die Vorstellung, auch nur einige ausgewählte Erzählungen der Aborigines aufschreiben zu dürfen, erfüllte sie mit gespannter Erwartung. Während sie sich in Gedanken darüber erging, fühlte sie zum ersten Mal deutlich die zarten Bewegungen ihres ungeborenen Kindes. Voller Freude über den Zauber dieser ersten Kontaktaufnahme legte sie die Hände auf ihren Bauch und dachte an das Baby – an Toms und ihr zweites Kind. Sie war so entspannt und versunken in ihre Muttergefühle, dass sie nicht bemerkt hatte, wie Tom mit Marrindi zurückgekommen war. Erst als Tom sich neben ihr niederließ, machte sie die Augen auf. Sein Blick ging zu ihren Händen, die immer noch auf ihrem Bauch lagen, und er sah sie fragend an. »Alles in Ordnung? Hast du Schmerzen?«
Sie strich sich verlegen die Haare hinters Ohr, setzte sich gerade hin und zupfte kurz an ihrem Pullover. »Alles in Ordnung.« Erneut fühlte sie sich durch Marrindis Anwesenheit verunsichert. Er hatte sich neben Tom auf einen Baumstumpf gesetzt. Tom nahm ihre Hand. »Du hast doch etwas, oder?« Nora beschloss, Marrindi für den Moment zu vergessen. Sie strahlte Tom an. »Ich hab das Baby gerade zum ersten Mal wirklich deutlich gespürt. Genau hier, unter diesem wunderschönen alten Baum. Ist das nicht toll? Ich hätte mir keinen schöneren Augenblick dafür wünschen können. Kein Geschrei von Sophie, keine Marie, die mal wieder ungehalten Sachen ihrer Reitausrüstung sucht und nicht findet, keine Handwerker, keine kaputte Waschmaschine. Nur das Baby und ich. Wir beide hatten diesen Moment hier draußen unter dem Eukalyptusbaum ganz für uns.«
Tom schien erleichtert. Er küsste sie rasch auf die Wange und zog sie an sich. »Gott sei Dank. Ich hab mir Sorgen gemacht, als ich dich so ernst und allein unter diesem Baum sitzen sah.« Nora stand auf und zog Tom mit sich. »Komm, du musst dir unbedingt die Farben von Wudima ansehen.« Beide verschwanden in der Werkstatt.
Obgleich Marrindi sich den Anschein gegeben hatte, ganz in Gedanken versunken zu sein, hatte er aufmerksam zugehört. Als Wirinun fragte er sich, ob es nicht etwas Besonderes zu bedeuten hatte, dass Toms Frau ausgerechnet hier die ersten Bewegungen ihres Ungeborenen wahrgenommen hatte. Natürlich, sie gehörte nicht zu diesem Stamm, und von daher schien es gleichgültig zu sein, aber dennoch … Marrindi grübelte. Für die Aborigines war es ungemein wichtig, wo sie die ersten Kindsbewegungen spürten, denn der Ort, an dem sich die Mutter zu diesem Zeitpunkt aufhielt, würde über die spirituelle Identität des Kindes
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