Wind Der Zeiten
später: »Das Kind wird immer schwächer. Wenn der Priester nicht bald eintrifft, dann kann er anstelle einer Taufe die Totenmesse lesen. Kenna gibt Alexander die Schuld.«
Die Tinte war ziemlich verschmiert, wahrscheinlich hatte Alans Mutter geweint. Danach waren zwei Seiten herausgerissen.
Die nächsten Eintragungen klangen positiver. Das Baby hatte sich erholt und der Priester seines Amtes gewaltet. Es waren dennoch schwere Zeiten, und im Folgenden las ich immer wieder Bemerkungen darüber, dass viele MacCoinnaichs ihr mit Misstrauen begegneten. Zum einen, weil sie aus Irland stammte, aber auch, weil sie als Witwe so rasch nach dem Tod ihres ersten Mannes geheiratet hatte. »Ich kann mir nicht erklären, woher die Leute in diesem abgelegenen Tal das wissen konnten, von Alexander oder mir hatten sie es bestimmt nicht erfahren.«
Doch als eine Gruppe der MacLeods von den Inseln zu Besuch auf Castle Grianach war, bekam sie eine Ahnung, wer die Gerüchte über sie verbreitete. Kenna erzählte ihr, die MacLeods hätten gehofft, ihre mitgereiste Tochter würde eines Tages in den Clan der MacCoinnaich einheiraten. Die Eltern schämten sich nicht, das Mädchen bei jeder Gelegenheit in der Nähe des Chiefs zu platzieren und sein Augenmerk auf die hübsche Blondine, die fast noch ein Kind war, zu lenken. Doch Alexander lachte nur, als Keriann ihn darauf ansprach. Auch sonst fand sie wenig Trost bei ihm. Sein einziger Rat war, die Vorwürfe zu ignorieren. »Der Gleanngrianach ist ein guter Mann. Er liebt mich, ist besonnen bei Tag und ungestüm in der Nacht. Ich danke Gott jeden Tag für diesen Gatten und meinen wundervollen Sohn. Das Kind ahnt nicht, wie sehr es geliebt wird. Alan ist so zart, dass mir bei jedem Zeichen von Schwäche ganz bange wird. Alexander verlangt viel von ihm, und der Junge tut alles für die Anerkennung seines Vaters. Gemeinsam mit Dolina MacRath, die mir inzwischen eine gute Freundin geworden ist, werde ich ihn zu einem Chief erziehen, der den Wert eines jeden Menschen, auch den der Frauen, erkennt.«
Ich hatte den Eindruck, dass die wenigen Jahre, die ihr für diese Aufgabe geblieben waren, ausgereicht hatten, wenigstens die Saat zu legen. Meine Fingerspitzen glitten über die Seiten, während ich an die letzten Tage dachte. Ich mochte mir gar nicht ausdenken, wo ich ohne seine Hilfe gelandet wäre.
Nach einer Reihe von Missernten, schrieb Keriann, war an einen lukrativen Handel mit Highland-Rindern nicht mehr zu denken. Von den wenigen Tieren, die ihnen nach eisigen Wintern und feuchten Sommern geblieben waren, verendeten viele auch noch an einer Seuche. Zahllose Menschen, hier im
Tal und anderswo, starben an Typhus, und im letzten Winter hatte die Grippe im gesamten Hochland gewütet. Kaum eines der geschwächten Neugeborenen überlebte.
Je größer das Elend wurde, desto feindseliger begegnete man Lady Keriann. Mit ihr sei das Unglück ins Tal eingezogen, hieß es, und Gerüchte machten die Runde, dass sie die Schwarzen Künste beherrsche und mit dem Feenvolk im Bunde sei. Besonders kurios fand ich, dass die Leute im gleichen Atemzug von Kennas Verbindung zur magischen Welt sprachen, ihr aber vieles zu verzeihen schienen. Sie war eine von ihnen und konnte nur ein Opfer sein, mit dem man Mitleid haben musste. Lady Keriann dagegen blieb immer eine Fremde und eine Täterin.
Mir wurde ganz elend, als ich daran dachte, was die arme Frau ertragen haben musste. Es wäre einfach gewesen, die MacCoinnaichs für ihre Dummheit zu verachten. Aber wenn ich genauer darüber nachdachte, dann hatte sich seither bis in meine Zeit nicht viel geändert. Im einundzwanzigsten Jahrhundert mochte wohl niemanden mehr die Furcht vor Feen umtreiben, aber Vorurteile, Unwissen und Engstirnigkeit waren noch immer der Stoff, aus dem die Konflikte ganzer Völkergemeinschaften geschaffen wurden.
Nach einem großen Schluck aus meinem Glas schüttelte ich die Melancholie ab, die mich bei diesen Überlegungen befallen hatte, und las weiter.
Alexander MacCoinnaich tat alles in seiner Macht Stehende, um seine Clansleute vor dem Hungertod zu bewahren. Damit sie nicht das Gefühl hatten, Almosen zu empfangen, beschloss er, das Herrenhaus um einen modernen Flügel zu erweitern und seine Leute, deren Talente eigentlich kaum geeignet waren, mehr als ein einfaches Bauernhaus zu errichten,
an den Arbeiten zu beteiligen. Zudem ließ er einige neue Häuser und den modernen und hygienischeren Küchen- und Wirtschaftstrakt nach
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