Wind des Südens
tun.«
»Nein, das glaube ich auch nicht. Dann würden zu viele Menschen davon erfahren, und es würde an die Öffentlichkeit kommen. Und ich weiß, dass sie ein sehr zurückhaltender Mensch ist. Aber wir passen auf sie auf, Mr. Willoughby. Sie kehrt doch nicht etwa zu diesem Schläger zurück?«
»Nein. Ich versuche, sie in ein Schiff nach Brisbane zu setzen, bevor er bemerkt, dass sie fort ist.«
»Ausgezeichnet«, erwiderte die Oberschwester strahlend.
Esme hatte sich im Park neben dem Bankgebäude versteckt. Nevilles Dokumentenmappe drückte sie an die Brust, als befürchtete sie, jemand könne sie ihr im Vorbeigehen entreißen. Die Bäume ringsherum hatten wieder zu blühen begonnen, und die Büsche bekamen dank der Hitze und des Regens frische grüne Triebe, die Esme an die sorglosen Tage in Singapur erinnerten.
Da sie es satt hatte, herumzulungern, als führe sie etwas Böses im Schilde, ließ sie sich auf einer schattigen Parkbank nieder, wo sie wirkte wie eine junge Dame, die in aller Seelenruhe die schöne Aussicht genoss. Sie trug ihre besten Sachen – einen großen schwarzen Hut mit Satinbändern und ein schwarzes, mit Rosenknospen besticktes Teekleid aus Seide. Sie hatte ein Hausmädchen gebeten, das Kleid für sie zu bügeln, und nicht auf das missbilligende Zungeschnalzen geachtet, als die Hotelangestellte anmerkte, der Rock habe Wasserflecken abbekommen.
»Das spielt keine Rolle«, hatte Esme ungeduldig erwidert. »Bügeln Sie es einfach. Die Leute werden denken, dass das zum Muster gehört.«
»Als würden die überhaupt jemals denken«, murmelte sie, nachdem sie das Mädchen mit dem Kleid endlich aus dem Zimmer geschoben hatte.
Nun jedoch muste sie diese Bemerkung einschränken, denn inzwischen war sie sich wohl bewusst, wie sehr sie darauf achten musste, einen guten Eindruck zu machen. Schließlich neigten besagte Leute dazu, sich eine Meinung zu bilden, was sich katastrophal für sie auswirken konnte. Insbesondere jetzt.
Zum sicher hundertsten Mal grübelte Esme darüber nach, welche Möglichkeiten ihr offen standen. Sie konnte sich mit dem Geld aus dem Staub machen und an Bord des erstbesten Schiffes gehen, das in eine x-beliebige Richtung fuhr. Da es sich um eine beträchtliche Summe handelte, würde sie genug Zeit haben, um ihren nächsten Schritt zu planen.
»Eigentlich«, sagte sie sich, »ist das der einzig vernünftige Weg. Schließlich gibt es keine Firma namens Apollo Properties. Irgendwann wird das bestimmt jemandem auffallen. Und dann bin ich am besten nicht mehr hier.«
Doch was war, wenn jemand ihre Flucht mitbekam und mit einem Telegramm die Polizei verständigte? Womit sollte sie ihren Aufbruch erklären? Dass sie vorübergehend nach Brisbane wollte, um den Feierlichkeiten zu Horwoods Erhebung in den Adelsstand beizuwohnen – vorausgesetzt, dass ihr Schiff überhaupt dorthin fuhr?
Aber mit den Firmengeldern?
Verdammt! Sie würde ein Schiff nehmen müssen, das nach Norden fuhr, rasch die australischen Gewässer verließ und Kurs nach Fernost nahm. Ein solches Schiff zu finden würde eine Weile dauern. Vielleicht war es deshalb das Beste, sofort zum Hafen zu gehen und Erkundigungen einzuholen. Allerdings fand heute Nevilles Beerdigung statt. Die Leute würden sie erkennen und sich fragen, was zum Teufel sie da trieb.
Die Tasche immer noch fest umklammernd, wiegte Esme sich auf der harten Bank hin und her. Nevilles Beerdigung! Ihr gesamter Körper wurde von Schluchzern erschüttert. Wie sollte sie das nur ertragen? Niemals durfte sie zulassen, dass man ihn einfach so im Boden versenkte! Nein, nicht Neville.
»Mein Gott, Neville wollte noch nicht sterben!«, rief sie unter Tränen aus. »Er hatte so viele Pläne. Für uns beide. Was soll ich denn jetzt bloß tun?«
Esme ließ die Mappe auf ihren Schoß rutschen. Sie wollte mit diesem Geld nichts zu tun haben, das sie nur in ernsthafte Schwierigkeiten bringen würde, ganz gleich, was sie auch damit anfing. Sie hatte genug von diesem Spiel und das Lügen gründlich satt.
Die Witwe Esme Caporn stand auf, rückte ihren Hut zurecht, zog sich den schwarzen Schleier übers Gesicht und holte tief Luft. Sie hatte eine Entscheidung gefällt, auch wenn ihr
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