Wind des Südens
ein«, meinte Raymond fröhlich und machte dem Gast mit einer auffordernden Geste Platz. Aber dieser zögerte.
»Erkennen Sie mich nicht, Mr. Lewis?« Der Tonfall war eher ungläubig als vorwurfsvoll.
»Sollte ich das denn?« Raymond beugte sich vor. »Irgendwie sind Sie mir vertraut …« Dann zuckte er zusammen. »Gütiger Himmel! Das ist doch nicht etwa … Tussup. Sie sind der Erste Offizier Tussup. Was machen Sie denn hier? Ich dachte, Sie säßen inzwischen längst im Gefängnis.«
Tussup zuckte die Achseln. »Ich brauche Ihre Hilfe. Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll.«
»Warum ausgerechnet ich, guter Mann? Man möchte doch meinen, dass ich der Letzte wäre, mit dem Sie etwas zu tun haben wollen.«
»Mr. Lewis, ich dachte, Sie kennten sich mit Gesetzen aus, da Sie doch dem Parlament angehören. Nun habe ich herausgefunden, dass Sie Anwalt sind, und das ist sogar noch besser.«
»Soll das heißen, Sie bitten mich, Sie wegen Ihres Verbrechens zu verteidigen?« Raymond war empört. »Eine ziemliche Frechheit, ich muss schon sagen. Eigentlich sollte ich jetzt die Polizei rufen.«
Tussup lief rot an. »Was sind Sie, Richter und Geschworener in einem? Ich bin kein Mörder. Das ist nicht wahr! Doch in den Zeitungsartikeln über mich und auf den Plakaten mit meinem Gesicht steht, dass ich einer bin. Ich möchte, dass Sie mir verraten, wen ich ermordet haben soll, Mr. Lewis.«
»Sie sind nicht wegen Mordes angeklagt«, erwiderte Lewis verlegen.
»Das ist nur eine Ausflucht und würde nicht verhindern, dass irgendein Provinzpolizist mich wegen dieses Vorwurfs verhaftet. Oder dass ein Cowboy berühmt werden will, indem er den Gesetzlosen Tussup abknallt. Ich werde gejagt wie die Kelly-Brüder!«
»Sie könnten sich jederzeit stellen.«
»Das versuche ich ja gerade. Aber dazu brauche ich Ihre Fürsprache.«
»Und warum sollte ich mich für Sie verwenden?«
»Weil Sie wissen, dass ich niemanden ermordet habe. Und dennoch haben Sie keinen Finger krumm gemacht, um diesen Fehler zu berichtigen, damit ich eine faire Chance bekomme!« Inzwischen hatte Tussup die Stimme erhoben. »Ein Mann in Ihrer Position hätte doch etwas sagen und den Zeitungen erklären können, dass sie sich irren. Auf Sie hätte man gehört. Aber nein, das hat Sie nicht interessiert. So viel zu Ihnen und zum Gesetz! Sie sind ein Scharlatan, Lewis!«
Raymond war entsetzt über diese Vorwürfe. Er sah, dass seine Schwester auf halber Höhe der Vortreppe stehen geblieben war und nicht sicher schien, ob sie weitergehen oder umkehren sollte. Tussup hatte auf dem Absatz kehrt gemacht und wollte davonstürmen.
»Warten Sie!«, rief er ihm nach. »Einen Moment bitte!«
»Warum? Damit Sie die Polizei verständigen und mich aus Ihrem Gewissen tilgen können?«
»Nein. Jetzt bleiben Sie doch endlich stehen! Sie erscheinen aus heiterem Himmel vor meiner Tür und bitten mich um Hilfe, und im nächsten Moment bezeichnen Sie mich als Schurken.«
Tussup hielt inne. Als Lavinia die Treppe heraufeilte, machte er ihr mit einem höflichen »Ma’am« Platz, so dass sie an ihm vorbeilaufen und das Haus durch die Glastüren am anderen Ende der Veranda betreten konnte.
»Kommen Sie«, meinte Raymond mit einem übertriebenen Seufzer, als frage er sich, womit er das verdient hatte. In Wahrheit jedoch dachte er über Tussups Vorwurf nach. War er wirklich ein Scharlatan? Hätte er sich mit den Zeitungsredakteuren in Verbindung setzen und sie auf ihren Fehler hinweisen sollen? Wäre es seine Pflicht gewesen, Mal Willoughby wegen dieser Plakate ins Gebet zu nehmen? Schließlich hatte er gewusst, dass die Anschuldigungen auf einem Irrtum beruhten. Bei genauer Betrachtung wäre das wirklich das Beste gewesen, aber er war einfach nicht auf den Gedanken gekommen.
Raymond führte den Besucher in sein Arbeitszimmer statt in den Salon, um der Unterredung eine geschäftliche Note zu geben, bot ihm einen Platz vor dem Schreibtisch an und setzte sich dahinter. »Soll ich das so verstehen, dass Sie meine Dienste als Rechtsbeistand in Anspruch nehmen wollen, Mr. Tussup?«
»Ja.«
Raymond wurde mulmig zumute. Es war noch Zeit, den Mann
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