Wind des Südens
wollte. Dass die Frau sich weigern könnte, sich in ihre, Lavinias, Obhut zu begeben, war undenkbar für sie. Und sie hörte auch nicht auf, ihren Bruder zu drängen, juristische Schritte einzuleiten, um Constances Entlassung zu beschleunigen. Es war eine gewaltige Aufgabe.
»Ich dachte, ich könnte einen langen Urlaub in Cairns verbringen, wenn ich erst einmal im Ruhestand bin, aber jetzt bin ich mehr beschäftigt als je zuvor«, beklagte er sich bei Lavinia, ehe er sich auf den Weg machte.
»So ein Unsinn«, gab sie zurück. »Du tust doch kaum etwas und brauchst trotzdem den ganzen Tag dafür.«
An diesem Tag hatte Mrs. Plummer ein Straßenfest organisiert. Sie verkaufte Kuchen, Pasteten und Marmelade; der Erlös war für die Opfer des Sturms bestimmt. Außerdem hatte sie einen langen Tisch aufgestellt, auf dem vom Sturm beschädigte Gegenstände und Kleidung für einen Penny pro Stück angeboten wurden. Esme bediente hinter der Theke, als Jesse erschien.
»Wie laufen die Geschäfte?«, erkundigte er sich.
»Ausgezeichnet. Möchten Sie vielleicht einen Teekuchen kaufen?«
»Gütiger Himmel, nein. Lulu würde einen Anfall kriegen. Bei mir zu Hause ist sie fürs Backen zuständig.«
»Dann nehmen Sie den Kuchen eben mit in die Redaktion. Für die Frühstückspause.«
Also setzte Jesse, einen rosafarben glasierten Kuchen in der Hand, seinen Weg zum Polizeirevier fort, wo er sich nach den sechs aus Murnanes Stall gestohlenen Pferden erkundigte.
»Noch keine Spur von ihnen«, erklärte Sergeant Connor. »Aber was ist schon zu erwarten, wenn Hunderte von Durchreisenden durch unsere Stadt ziehen und hordenweise Chinesen hier campieren? Inzwischen kann ich die Einheimischen nicht mehr von den Auswärtigen unterscheiden.«
»Chinesen stehlen keine Pferde.«
»Warum nicht?«, fragte Connor ehrlich erstaunt, und Jesse lachte auf.
»Richtig, was stimmt mit unseren Pferden nicht? Hast du noch was über die Leiche im Busch erfahren? Ist es wahr? Und wer ist der Mann?«
»Du hattest vollkommen Recht. Keine Ahnung, wann ich ohne deinen Tipp den Bericht bekommen hätte. Der hirnverbrannte Constable hatte das Opfer bereits begraben. Also habe ich ihm befohlen, die Leiche zu exhumieren, einen neuen Sarg zu besorgen, und sie hierher zu schicken. Nein, niemand wusste, wer der Mann ist. Aber das werde ich schon noch rauskriegen. Vielleicht schaffen sie es heute noch, den Toten herzubringen. Soll ich dir Bescheid geben?«
Jesse wollte verhindern, dass Connor Mal aufscheuchte, bevor er die beiden Chinesen aus der Stadt geschleust hatte. »Nein, ich werde nicht zu Hause sein. Ich muss Überstunden machen. Am besten melde ich mich selbst auf dem Revier.«
»Was hast du denn da?« Connor war für seine Verfressenheit berüchtigt.
»Einen Kuchen – das siehst du doch. Hier, du kannst ihn haben.«
»Du bist ein guter Mensch, Field«, meinte Connor grinsend und nahm den Kuchen entgegen. »Der beste Mensch, den ich kenne.«
»Ein Mensch, der im Begriff ist, Tussups Mördern bei der Flucht zu helfen«, sagte sich Jesse. »Daran ist wirklich nichts Gutes zu erkennen.«
Er ließ sich Zeit bis zur letzten Minute und erreichte das Tor des Lagers, als die Wachen es gerade für die Nacht schließen wollten.
Chang und Wu Tin erwarteten ihn bereits aufgeregt, und die Erleichterung in ihren Gesichtern wurde von einem angespannten Lächeln abgelöst, als man sie durch eine Seitenpforte hinausließ.
»Wir müssen uns beeilen«, flüsterte Jesse, um den beiden klarzumachen, dass ihr Verhalten nicht unbedingt im Einklang mit dem Gesetz stand. Wie erwartet, störte das die zwei Chinesen nicht weiter. »Hier haben Sie Ihre Sachen und Wu Tins Deckenrolle. Und hier sind das Geld für die Pferde, Chang, Ihre Börse, Ihre neuen Papiere und zwei Fahrkarten. Kommen Sie mit.«
Er scheuchte die Chinesen die Straße entlang zum Hafen, wo es schon beinahe dunkel war. Zum Glück war hier im Norden die Dämmerung kurz, und als sie das Schiff erreichten, war es bereits stockfinster.
Jesse eilte vor den Chinesen die Gangway hinauf, sprach mit dem wachhabenden Offzier und zeigte die Papiere
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