Wind des Südens
sitzen dürfen, und nun verstand er den Grund dafür, denn er lernte das Reiten rasch, und sein Selbstbewusstsein wuchs: Auf dem Rücken eines (wenn auch langsam dahintrottenden) Pferdes überragte ein Diener nämlich seine Standesgenossen, wodurch die Gefahr bestand, dass er sich ihnen überlegen fühlte. Obwohl Wu Tin sich nach außen weiterhin bescheiden gab, betrachtete er sich nun als Offizier von Lis Wache und als tapferen, furchtlosen Mann. Und dieses verwegene Selbstbild verlieh ihm den Mut, die Augen ein Stück höher zu heben und die Welt ein wenig klarer zu sehen.
Bald kannte er die Bedürfnisse seines Herrn und las ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Dadurch wurde einer der Adjutanten des jüngeren Herrn Li auf ihn aufmerksam, der – wie Wu Tin bereits festgestellt hatte – eifersüchtig auf Chang war und befürchtete, der Neuankömmling könnte ihn verdrängen. Es dauerte nicht lang, und der Adjutant steckte Wu Tin Münzen zu, damit dieser seinem Herrn nachspionierte. Er warnte ihn, man könne Chang nicht vertrauen, denn dieser führe Übles im Schilde und plane, seinem Diener die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben; daraufhin würde Wu Tin im Land der Weißen aufgehängt werden und seine Heimat nie wiedersehen.
Wenig später fand Wu Tin heraus, dass man Chang tatsächlich im Auge behalten musste. Er sah mit eigenen Augen, wie sein Herr den malaiischen Seemann tötete, und fand zu seiner Überraschung bald heraus, dass der jüngere Herr Li ihn für diesen Mord bezahlte. Als Nächstes erschien Jake Tussup auf der Bildfläche, und Wu Tin erfuhr erstaunt, dass er als Zeuge für die vom jüngeren Herrn Li angeordnete Tat würde herhalten müssen. Es war sogar wichtig, dass er alles genau beobachtete, damit Chang auch den Lohn für die Ausführung des Befehls bekam.
Dann jedoch nahmen die Ereignisse eine gefährliche Wendung, als Chang – offenbar im Blutrausch – sich des Mordes an Tussup brüstete, und zwar gegenüber einem Weißen, seinem Freund Willoughby! Und was das Schlimmste daran war: Er beschuldigte seinen Diener der Mittäterschaft!
Für den misstrauischen Wu Tin war die Entlassung aus dem Gefängnis am Hafen zu plötzlich gekommen. Warum die Heimlichkeit, wenn doch alles mit rechten Dingen zuging? Und weshalb hatte der Mann sie erst nach Einbruch der Dunkelheit an Bord gebracht? Er fragte sich, was Chang wohl diesmal im Schilde führte.
Zitternd vor Angst versteckte sich Wu Tin an Deck unweit der Gangway und beobachtete das Kommen und Gehen der japanischen Mannschaft. Chang hatte den Mann, den sie Tussup nannten, erschossen, und Willoughby war über dieses Verbrechen entsetzt und böse auf ihn. Er wollte es der Polizei melden, so viel stand fest. Hatte Chang es ihm ausgeredet? Oder ihn bestochen? Chang war so gut befreundet mit all diesen weißen Männern! Was hinderte sie daran, gemeinsam den einzigen Zeugen zu beseitigen? Geld hatte den Besitzer gewechselt. Das hatte Wu Tin an der Pforte der Festung mit eigenen Augen gesehen.
Nur eine Stunde später sah er, wie Chang sich an Deck pirschte und die Gangway hinunterschlich.
Er hatte es gewusst! Wu Tin sprang auf. Möglicherweise hatte Chang ihn ja an die Japaner ausgeliefert und sie bezahlt, damit sie ihn töteten, während er selbst sich aus dem Staub machte – mit sauberen Händen und einem wasserdichten Alibi. Rasch eilte er vom Schiff und huschte lautlos über den hölzernen Bootssteg an den Strand und die Staubstraße entlang, wobei er Chang nicht aus den Augen ließ.
Als Chang sich einer Gruppe von Männern näherte, die vor einer gut besuchten Taverne standen, hielt Wu Tin den Atem an. Doch die Männer wollten nichts von ihm. Er sah, wie sie Chang den Weg erklärten und in die angegebene Richtung wiesen. Chang machte sich gemächlichen Schrittes auf den Weg. Als ob ihm die Welt gehörte, dachte Wu Tin neidisch.
Die Nacht war sternenklar und sehr ruhig. Die Flughunde, die sich an den Früchten und Blüten in Jesses Garten labten, flatterten zirpend über den dunklen Himmel und erschreckten Lulu, die mit einem Regenschirm bewaffent aus dem Haus kam.
»Es wird nicht regnen«, meinte Mal lachend.
»Ich weiß. Es ist wegen der verdammten Flughunde. Die fliegen einem in die Haare!«
»Aber nein. Die wollen nichts von Ihren Haaren.
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