Wind des Südens
»Was?«
Leitern und anderen Hindernissen ausweichend, stürmte er durch das Gebäude und hinaus ins Freie.
»Da«, sagte sie. »Da drüben. Ist das Ihre Miss Horwood?«
»Mistress«, korrigierte er geistesabwesend. »Die Frau da?« Er betrachtete die schäbige Gestalt, die unbeteiligt neben einer hohen Bougainvillea-Hecke saß. Ihre verblichene braune Kleidung stand in starkem Kontrast zu den üppigen roten Blüten um sie herum.
Es war ihm peinlich, auf diese Art in die Intimsphäre der Frau einzudringen, doch er musste sie aus der Nähe sehen. Als er über den eingetrockneten Schlamm des Hofs auf sie zuging, hob sie den Kopf.
»Oh, Mr. Lewis! Gott sei Dank, dass Sie gekommen sind!« Sie fing an zu weinen. »Wo sind wir? Ich bin völlig orientierungslos. Mr. Lewis, würden Sie mich bitte zurück aufs Schiff bringen?«
Er nahm sie in die Arme, tröstete sie, lächelte über Lotties triumphierendes Gesicht und nickte, als sie ihr kostbares Schreiben hochhielt.
»Ich hab sie gefunden!«, schrie das Mädchen. »Ich! Ich habe sie gefunden. Ich krieg die Belohnung. Hundert Pfund!«
5. Kapitel
Beerdingungsprozessionen waren keine Seltenheit in den kalten, windigen Straßen von Peking, doch die heutige veranlasste die Fußgänger, zur Seite zu huschen, zu flüstern und zu starren.
Die wunderschön gearbeitete silberne Urne stand auf einem mit Blumen geschmückten Sockel in einer von vier Kulis getragenen reich verzierten Sänfte mit Glasfenstern. Der Verstorbene musste eine bedeutende Persönlichkeit gewesen sein, wenn er mit solchem Aufwand die letzte Reise antrat, und sie falteten die Hände und wichen respektvoll zurück, während sie das elegante Gefährt mit seinen Blattgoldornamenten auf schwarzer Emaille betrachteten. Die Vorhänge an den kleinen Fenstern, aus besticktem Tuch mit schwarzen Quasten, ernteten Bewunderung, doch das überbordende Meer von frischen Blumen, das den Boden um den Sockel herum bedeckte, weckte staunendes Entzücken. Die Nächststehenden bemerkten, dass die Farben der Blüten, im glänzenden Silber der Urne gespiegelt, mit den Bewegungen der Sänftenträger zu tanzen schienen, und sie weinten, hingerissen von so viel Schönheit.
Dennoch war es eine merkwürdige Angelegenheit, darüber war man sich einig, denn man könnte doch meinen, eine wohlhabende Person hätte einen bedeutend großartigeren Leichenzug zu bieten, doch dieser hier war kaum der Rede wert.
Zwei Herren, in Leder und schwere Pelze gekleidet, die Gesichter staubverkrustet, ritten auf schönen Pferden voraus. Auch der Beerdigungsschmuck der Reittiere passte hervorragend, und die Nachhut bildeten zwei bewaffnete Wachen, deren Schwerter wie zur Warnung klirrten.
Die Reiter bogen in eine schmale Gasse ein, waren jetzt gezwungen, hintereinander zu reiten, und die Kulis folgten ihnen, balancierten ihre Last um enge Kurven, bis sie Anweisung erhielten, an einem Tor nahe dem Himmlischen Brunnen zu halten … ein Brunnen, der, soweit man zurückdenken konnte, nie funktioniert hatte.
Bald schwang das Tor auf, und der Leichenzug betrat den Hof eines Hauses, das Xiu Tan Lan gehörte. Die umstehenden Budenbesitzer hätten berichten können, dass Mr. Xiu seit den letzten Straßenkämpfen nicht mehr hier residiert hatte, und nur seine Haushälterin, Zina, wohnte dort mit seiner Dienerschaft, doch jetzt waren sie, von den hohen Mauern verschluckt, aus dem Blickfeld verschwunden.
Mal blieb im Sattel und wartete, bis Chang, sein Majordomus, von der Haushälterin die Erlaubnis zum Übernachten eingeholt hatte.
Als er nach schwierigen Reisen über Manila und Hongkong den chinesischen Hafen Tientsin erreicht hatte, hatte er Chang engagiert, einen ausgezeichneten, Englisch sprechenden Berater, der ihn durch das komplizierte Protokoll führen sollte. Die strenge Einhaltung dieses Protokolls war nicht nur für die bevorstehende Reise, sondern auch für die traurige Pflicht, die er noch zu erfüllen hatte, von größter Wichtigkeit.
Chang war ein großer, schöner Mann in den Vierzigern, wie Mal schätzte, und in seinem Benehmen reichlich weibisch. Sein Haar formte er mittels Pomade zu einem Knoten auf dem Kopf, und er trug einen schmalen Bart, kaum mehr als ein schwarzer
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