Wind Die Chroniken von Hara 1
fest in die Augen. »Die haben sich uns gegenüber zu viel herausgenommen.«
»Oh«, knurrte er. »Schade. Es waren gute Männer.«
»Ohne jede Frage«, bemerkte ich ernst.
»Hol mich doch das Reich der Tiefe!«, rief da derjenige, den Stumpf Luga genannt hatte. »Das ist der Graue!«
Diese Entdeckung machte auf die Umstehenden gewaltigen Eindruck. Endlich ging ihnen auf, welche Verbindung zwischen der rätselhaften Reise Knuths, Gnuzz’ und Bamuths, dem Wurfbeil in Stumpfs Händen und der Ankunft eines Mannes und einer Frau bestand.
Sie gafften uns mit großen Augen an. Luga brachte einen möglichst großen Abstand zwischen sich und Lahen, denn mittlerweile war ihm klar, dass Stumpfs Worte über die abgerissenen Gliedmaße buchstäblich zu verstehen waren. Lahen hatte sich während ihrer Zeit in Alsgara nicht gerade den besten Ruf erworben.
»Wie ausgesprochen scharfsinnig von dir«, bemerkte Stumpf. »Aber pass auf, dass dir am Ende nicht ein Strick draus gedreht wird!«
»Mhm«, brummte Luga bloß.
»Mir ist klar, dass die Versuchung, diese Geschichte überall herumzuerzählen, sehr groß ist«, fuhr Stumpf fort. »Genau wie der Wunsch, ein paar Soren zu verdienen. Aber gebrauch lieber erst dein Hirn, bevor du deinen Mund aufmachst! Schließlich muss dir noch jemand das Geld auszahlen. Yokh ist weit, während ich immer in deiner Nähe bin. Und deine Familie ebenfalls. Also, du bist doch ein kluger Junge, oder?«
»Ich werde meinen Mund halten.«
»Hervorragend. Und jetzt geh wieder an deine Arbeit. Für alle anderen gilt meine Warnung übrigens auch. Ich hoffe, niemand von euch wird auf die Idee kommen, dass zehntausend Soren meine Unzufriedenheit und … Schwierigkeiten mit der Familie wert sind. Wunderbar. Ghel, du garantierst mir mit deinem Kopf für die Männer.«
»Wir werden kein Wort ausplaudern«, versicherte der Breitschultrige. »Du kennst uns doch.«
»Eben.« Dann wandte er sich an Lahen und mich. »Gehen wir ins Haus.«
»Du bist ja nicht gerade zimperlich mit denen«, bemerkte ich, sobald wir eingetreten waren.
»Anders geht es nicht.«
»Du glaubst wirklich, diese Ankündigungen fruchten?«
»Selbstverständlich!«, schnaubte Stumpf. »Sie wissen, dass ich oft belle, aber nur zubeiße, wenn es um die Gilde geht.«
»Du beißt nicht. Du zerreißt sie in Stücke.«
Er lachte leise, gab mir das Wurfbeil zurück, warnte mich aber gleichzeitig: »Übertreib nicht!«
Im Haus brannten Kerzen. Auf dem Boden lag eine weinrote Brücke, die das Geräusch unserer Schritte schluckte. Stumpf blieb vor einer Flügeltür stehen und öffnete sie. »Rein mit euch.«
Uns erwartete ein großes Zimmer. Auf einem langen Tisch mit einer weißen Tischdecke brannten etliche Kerzen, die den Raum in helles Licht tauchten.
Jemand klatschte. Diejenige, die da Beifall spendete, war eine hochgewachsene, ältere Frau mit einem angenehmen Gesicht, breitem Mund und ausgeprägtem Kinn. Das grau melierte Haar verschwand unter einem gestärkten Häubchen. Sie trug einfache, wenn nicht gar schlichte Kleidung. Wer diese liebenswerte und gutmütige Bäckersfrau sah, käme nie auf die Idee, das Oberhaupt der Gijanen-Gilde aus dem Süden vor sich zu haben, eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Verbrecherwelt Alsgaras. Ebenjene Frau, die auf den Namen Moltz hörte. Die wenigen Menschen, die sie je zu Gesicht bekommen hatten, ließen sich an den Fingern beider Hände abzählen. Sie hielt sich stets im Hintergrund und überließ es Stumpf, mit all denjenigen zu verhandeln, die für die Gilde arbeiteten. Und der achtete strikt darauf, Moltz als Mann auszugeben. Selbst Eingeweihte sprachen lieber von einem Er. Das war ihnen vertrauter – und alles in allem ungefährlicher.
»Hut ab, meine Lieben.« Sie erhob sich. »Ihr habt es fast geschafft, alle an der Nase herumzuführen.«
»
Fast
zählt nicht«, erwiderte ich.
Sie blieb ruhig, lächelte und brachte mit ihrem ganzen Gebaren zum Ausdruck, wie sehr sie sich darüber freue, uns zu sehen. Diese herzensgute Tante, die nach langen Jahren ihre Nichte und ihren Neffen wiedersieht.
»Immerhin hättet ihr mit diesem Feuer sogar mich beinah getäuscht.«
»Aber nicht die Schreitenden.«
»O nein, sie nicht. Die sind von Natur aus misstrauisch, aber nach ein, zwei Jährchen haben auch sie Ruhe gegeben. Zumindest sah es so aus. Doch warum setzt ihr euch nicht? Essen wir etwas. Stumpf, lass auftragen. Was für eine Freude, euch immer noch vereint zu sehen. Aber
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