Wind Die Chroniken von Hara 1
»Ich denke, das Gleiche wie er: nichts.«
»Das ist nicht sonderlich großzügig.«
»Aber ehrlich. Rowan weiß nicht, wo das Buch ist. Du weißt nicht, wo das Buch ist. Ich weiß nicht, wo das Buch ist. Es wird Jahrhunderte dauern, dieses Buch zu finden. Insofern sind alle Versprechungen nur Schall und Rauch. Außerdem sollten die Geheimnisse des Skulptors für dich zurzeit keinen Vorrang haben. Du scheinst vergessen zu haben, dass du nicht in der Lage bist, Gespenstern hinterherzujagen. Bisher hast du weder den Heiler noch dieses überaus begabte Mädchen in deine Gewalt gebracht. Sie stellen aber deine einzige Möglichkeit dar, deine Kraft und einen brauchbaren Körper zurückzugewinnen – falls dir nicht dein neuer inzwischen besser gefällt. Mach nicht so ein Gesicht, ich weiß ja, dass dem nicht so ist. Verdopple also deine diesbezüglichen Anstrengungen. Diese beiden sollten dein Hauptziel sein, nicht das Tagebuch. Du bist fünf Jahrhunderte ohne die Wegblüten ausgekommen, du wirst es auch noch einmal so lange schaffen. Aber ohne deine Kraft und ohne deinen Körper wird dich sogar Mithipha erledigen. Und du wirst mir sicher zustimmen, dass dies ein unwürdiges Ende für ein derart langes Leben wäre. Du brauchst diesen Heiler, mein Kind. Vergiss von mir aus das Mädchen – aber bringe mir den Heiler gesund an Leben und Geist. Er ist deine einzige Hoffnung. Sind die beiden in der Stadt?«
»Ich weiß es nicht, aber möglich ist es.«
»Dann finde es heraus! Verlier keine Zeit! Wenn die Armee eintrifft, bricht ein fürchterliches Chaos los. Dann wirst du Alsgara nur noch mit Mühe wieder verlassen können.«
»Das ist mein geringstes Problem. Erst einmal muss ich nach Alsgara
hineinkommen.
«
»Das Hafenviertel ist immer schlecht bewacht worden. Versuch es dort, mein Mädchen.«
»Das habe ich mir auch schon überlegt.«
»Wunderbar. Dann hätten wir auch das geklärt. Bring mir den Heiler, und ich werde nichts unversucht lassen, dir deine frühere Kraft zurückzugeben. Im Übrigen habe ich beim Studium der alten Bücher einen bemerkenswerten Zauber entdeckt. Er wird dir helfen, deinem kleinen Gefährten unauffällige Augen zu geben. Du stimmst mir sicher zu, dass diese fahlen Augen zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Hier, präg dir das Geflecht des Zaubers ein.«
Talki zeichnete einige feine Linien in die Luft.
»Vielen Dank, das wird mir helfen.«
»Das denke ich auch. Viel Glück, meine Kleine.«
Ohne auf eine Erwiderung zu warten, löschte Talki daraufhin das Silberfenster. Thia murmelte einen Fluch, ließ Pork aufstehen und machte sich auf die Suche nach einem Boot.
Kapitel
19
»Habt Mitleid mit einem armen Krüppel! Mitleid!«
Seit dem frühen Morgen hatte ich diesen Satz wohl schon tausend Mal vor mich hin gemurmelt. Natürlich ging ich nur schwer als Krüppel durch, aber ein Pfund Dreck, schmutzige und gewaltig stinkende Kleidung, eine Kapuze, die mir tief ins Gesicht hing, und eine Tonschale mit abgeschlagenem Rand überzeugten jeden davon, dass ich zumindest ein Bettler war. Oder ein Faulpelz, der sich um die Arbeit drückte, das kam ganz auf den persönlichen Standpunkt an. Immerhin schwärzte mich niemand an. Viele Menschen sahen durch mich hindurch, manch barmherzige Seele warf mir jedoch auch einen Kupferling zu.
In den drei Stunden, die ich bereits auf dem Straßenpflaster hockte, hatte ich auf diese Weise zwölf Kupferlinge erwirtschaftet. Die Rolle des Bettlers brachte also durchaus Vorteile mit sich.
Sie hatte aber auch ihre Schattenseiten. Zunächst befanden mich einige Soldaten, die durchs Gurkenviertel patrouillierten, ihrer Aufmerksamkeit für würdig. Sie stellten mich vor die Wahl: Entweder meine Rippen könnten Bekanntschaft mit den Holzschäften ihrer Lanzen schließen und ich würde im Gefängnis landen oder ich teilte meinen Erwerb. Kurzerhand steckte ich ihnen zwei Sol zu. Danach ließen sie mich in Ruhe. Im Anschluss daran beehrte mich ein anderer Bettler, ein Kraftbolzen, wie ich ihn noch nie erlebt hatte – und selbstverständlich ein waschechter Krüppel. Natürlich fing er Streit an, weil ich seinen Stammplatz mit Beschlag belegt hatte, packte mich beim Kragen und stellte mir in Aussicht, mir die Seele aus dem Leib zu prügeln. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm seine Männlichkeit mit meinem Dolch zu kitzeln. Da begriff er, dass der Spaß ein Ende hatte, hielt den Mund, gab mich frei und trollte sich. Mehr wollte ich nicht.
Der Himmel war grau,
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