Windbruch
denen beim An- und Abtransport Pakete oder ähnliches abgestellt
wurden, die bei Schwankungen der schwimmenden Plattform nicht unvermittelt über
Bord gehen sollten.
„Hallo“, rief sie so laut, wie es
ihre schwindenden Kräfte noch hergaben, „ist da noch jemand?“ Sie lauschte angestrengt,
damit sie auch nicht das leiseste Flüstern oder Wimmern überhören würde. Aber
da kam nichts. Und selbst wenn sie jemand gehört hatte, er würde sich über die
tosenden Geräusche von Wind und Wasser wohl kaum verständlich machen können.
Wann nur würde der Sturm endlich nachlassen, fragte sich Tomke immer und immer
wieder; und in ihrer immer größer werdenden Verzweiflung tat sie, was sie schon
seit Kindertagen nicht mehr getan hatte: Sie betete. Sie betete inständig zu
Gott, dass er sie und ihre Kollegen aus dieser misslichen Situation befreien
würde.
Ihr war klar, dass sie auf keine
Hilfe vom Festland hoffen konnte, wenn der Orkan nicht nachließ. Ob da
überhaupt schon jemand mitbekommen hatte, was hier draußen passiert war?
Vermutlich nicht. Denn sicherlich hatte keiner von hier noch die Möglichkeit
gehabt, einen Notruf abzusetzen. Und selbst wenn. Was hätten sie tun sollen,
ohne sich selbst in Gefahr zu bringen? Nein, solange das Wetter sich nicht beruhigte
und die ersten Schiffe wieder ausliefen, war vermutlich keine Rettung zu erwarten.
Tomke dachte an Maarten, der
jetzt wahrscheinlich in seinem warmen Bett lag und selig vor sich hinschlummerte,
und ihr Herz zog sich beim Gedanken an ihn schmerzhaft zusammen. Würde sie ihn
jemals wiedersehen? Oder würde sie hier draußen in der eisigen und feindlichen
Nordsee elendig zugrunde gehen, ohne ihm gesagt zu haben, wie sehr sie ihn
mochte?
Eine weitere Welle salzigen,
eisigkalten Wassers ging über sie hinweg, und es fühlte sich an wie tausend
kleine Stiche, die ihr messerscharf in die Haut schnitten, obwohl sie ansonsten
längst kein Gefühl mehr in ihren Gliedmaßen hatte und auch die schmale
Eisenstange nicht mehr spürte, an der sie sich nach wie vor festklammerte.
Zumindest glaubte sie, sich noch daran festzuklammern, da es ihr bisher gelungen
war, nicht aus ihrer Nische herausgespült zu werden. Aber wie lange würde sie
dafür noch die Kraft aufbringen?
„Maarten“, schluchzte sie
verzweifelt auf, „bitte komm und hilf mir!“ Falls sie diese Tortur hier
überleben sollte, dann würde sie ihm als allererstes ihre Liebe gestehen.
Vielleicht mochte er sie ja auch. Dann hatten sie monatelang nebeneinander her
gelebt, ohne es sich zu sagen. Welche Zeitverschwendung, dachte sie.
Schließlich hatte sie jetzt erfahren müssen, dass das Leben von einem Moment
auf den anderen vorbei sein konnte. Unfassbar, was man in dem Glauben, man
hätte ja noch so viel Zeit, alles versäumen und vielleicht nie erleben konnte.
Das sollte, nein, das musste jetzt anders werden.
Sie beschloss, sich ihre Zukunft
mit Maarten ein wenig auszumalen, bevor ihre Verzweiflung die Oberhand gewann
und sie dann womöglich nicht mehr die Kraft aufbrachte, an eine positive
Zukunft zu glauben und sich einfach mit der nächsten Welle fortspülen ließ.
Aber als sie die Augen schloss, dachte sie nicht an die Zukunft. Sie dachte an
die warmen Sommertage ihrer Kindheit in dem kleinen Dorf Canhusen, sah sich mit
den Nachbarskindern über die Felder laufen und am Schöpfwerk in Longewehr in
der Sonne liegen. Sie roch die frisch gemähten Wiesen, schmeckte das Salz auf
ihren Lippen, wenn sie am warmen Sandstrand von Juist einen Spaziergang machte.
Wie schön es hier war und wie hell ...
Wieder schlug eine eisige Welle
über ihr zusammen. Aber sie merkte es nicht mehr. Die Schwärze der Nacht hatte
sie eingefangen.
32
„Weiß man schon Neues?“, schrie
Maarten gegen Wind und Regen an und versuchte, die Kapuze der Öljacke auf dem
Kopf festzuhalten. Er war gerade am Kutterhafen von Greetsiel eingetroffen und
gesellte sich nun zu der rund fünfzig Personen umfassenden Menschenmenge.
„Nee“, schrie Swaantjes Freund
Simon zurück, der nach der Radiomeldung auch gleich nach Greetsiel aufgebrochen
war und unterwegs mit Maarten telefoniert hatte. „Einige Fischer wollten gleich
mit ihren Kuttern auslaufen und selber nachschauen. Aber der alte Hinni konnte
sie überzeugen, dass es keinen Zweck hat.“ Er wies auf die Krabbenkutter, die
auf den ungewöhnlich hohen Wellen hin- und hertanzten und an ihren Tauen
zerrten.
„Hört jemand Radio?“
„Ja, da hinten im Auto sitzt
ständig
Weitere Kostenlose Bücher