Windbruch
Lippen und kippte den
Schnaps in einen Zug hinunter. Simon, der neben ihm saß, tat es ihm gleich.
„Schöne Scheiße“, nuschelte er dann. „Möchte gar nicht wissen, wie viele
Menschen dabei umgekommen sind.“
„Ich bringe ihn um“, sagte
Maarten, zunächst leise. Doch schon im nächsten Moment schrie er die Worte laut
heraus und donnerte mit beiden Fäusten auf den Tisch. „Ich schwöre, ich bringe
dieses Schwein um, so wahr ich hier sitze!“ Dann ließ er seinen Kopf auf den
Tisch fallen und fing wimmernd an zu weinen.
33
Das ganze Ausmaß des Unglücks
wurde erst deutlich, als sich die Sonne langsam hinter dem Horizont hervor
schob und einen ruhigen Herbsttag ankündigte. Der Sturm war vorbei. Die Nordsee
umspülte in seichten Wellen den amputierten Stahlmast der Windlady II ,
der sich majestätisch in den nun fast wolkenlosen Himmel reckte. Ein
Unbeteiligter, der von den Ereignissen der vergangenen Nacht nichts wusste,
hätte bei diesem Anblick den Eindruck gewinnen können, hier harre eine
Windkraftanlage geduldig ihrer baldigen Fertigstellung - wäre er nicht in
unmittelbar Nachbarschaft auf das Bild schrecklicher Verwüstung gestoßen.
Dieses Bild des Grauens war es,
das sich für immer in das Hirn der Helfer einbrannte, die nun mit
schreckensbleichen Gesichtern und mit in Demut gesenkten Köpfen in ihren Booten
und Kuttern vor der Unglücksstelle auf- und abkreuzten und hofften, noch
Überlebende zu finden. Keiner von ihnen sprach ein Wort, nur ab und zu waren
vereinzelte Rufe von der zerstörten Plattform zu hören, wenn die Sanitäter und
Ärzte ihre Anweisungen weitergaben. Doch für die meisten der zwanzig Personen,
die sich während des Orkans auf der Plattform befunden hatten, kam jede Hilfe
zu spät. Einige Leichen hatte man bereits bergen können. Sie waren
offensichtlich von Trümmerteilen erschlagen worden oder in den eindringenden
Fluten ertrunken. Unter ihnen die zwei Söhne des alten Fischers, der nun
gebrochen neben den geschundenen Körpern seiner Jungen saß und ihnen immer
wieder mit seinen schwieligen Händen zitternd über die bleichen Gesichter fuhr;
und dessen Frau zitternd vor Sorge und Angst in ihrer kleinen Kate in Greetsiel
saß und noch nicht wusste, dass sie ihre beiden Jungen nie wieder in die Arme
würde nehmen können.
Einer der Ärzte kümmerte sich um
Tomke. Schon kurz nach der Ankunft des zweiten Rettungskreuzers war sie eher zufällig
in ihrer kleinen Gitterzelle von einem der starken Scheinwerfer erfasst und
eilig geborgen worden. Sie war stark unterkühlt und ohne Bewusstsein. Zunächst
hatten die Ärzte gedacht, nichts mehr für sie tun zu können. Aber dann hatte
doch einer von ihnen ihren beinahe nicht mehr spürbaren Puls ertastet und man
hatte sie hektisch in warme Decken eingeschlagen und medizinisch versorgt, so
gut es eben ging.
Der junge Arzt suchte mit
unruhigen Augen den Himmel ab. Sie hatten mehrere Rettungshubschrauber
angefordert, eigentlich hätten sie schon längst hier sein müssen. Gerade, als
er sich fluchend wieder abwandte und zum Funkgerät griff, hörte er in der Ferne
das laute Röhren der Helikopter, die sich, überdimensionierten Insekten gleich,
von Borkum her näherten und langsam in sein Sichtfeld rückten. Er zog erleichtert
den Atem ein, froh, die Verantwortung für die allesamt schwer Verletzten nun
bald nicht mehr tragen zu müssen.
Die Bergung der Verletzten ging
reibungslos vonstatten. Instinktiv hatte der junge Arzt Tomke über das immer
noch eiskalte Gesicht gestrichen, als sie gut verschnürt mit einem
Rettungssanitäter an stabilen Seilen vom Schiff in den Helikopter gezogen
wurde. Er hatte nur wenig Hoffnung, dass sie es schaffen würde. Ihr einziges
Plus, das sie hatte, war ihr noch junges Alter und ihr durchtrainierter Körper.
Aber er wusste nicht, ob das reichen würde. Ihr Zustand war einfach erbärmlich.
Nachdem die Hubschrauber wieder
abgeflogen und am Horizont verschwunden waren, machten sich auch die Fischerboote
wieder auf Richtung Festland, an Bord die toten Söhne des alten Fischers. Die
Küstenwache hatte ihren Transport mit dem Kutter zunächst nicht erlauben
wollen. Ein Blick in die flehenden Augen des alten Vaters aber hatte sie verstummen
lassen.
Als die Fischer am Hafen von
Greetsiel einliefen, hatte sich hier eine große Menschenmenge versammelt. Sie
war abrupt verstummt, als sie die Kutter in der Ferne auftauchen sah, und
vermittelte nun den Eindruck einer schweigenden Klagemauer. Als erstes
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