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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Redick
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lauschte.
    Anfangs hörte er nur das Schiff – Geräusche, die ihm so vertraut waren, dass er sie kaum noch wahrnahm. Unter den Fenstern rauschte das Wasser um den Achtersteven, und das Steuer knarrte, wenn Mr. Elkstem am Rad drehte. Möwen kreischten. Männer lachten und verständigten sich durch Zurufe. Alles ganz alltäglich.
    Dann flüsterte Ramachni etwas, und Tascha beugte sich über Pazel und stieß ein Fenster auf. Ein Windstoß fuhr durch den Raum und zauste ihr das Haar. Ramachni glitt aus ihren Armen auf den Fenstersitz und kroch vorsichtig auf Pazels Brust.
    »Schließe deine Augen«, befahl er.
    Pazel gehorchte, und sobald sich seine Lider senkten, wurde er fortgerissen – davongewirbelt wie ein Blatt auf einem mächtigen Wirbelsturm von Geräuschen. Ein Zyklon, nicht laut, aber tiefer noch als das Meer. Er hörte das Pochen von tausend Herzen, hörte jedes einzelne Herz auf der Chathrand, vom langsamen Paukenschlag in der Brust der Augrongs bis zum bipbipbip der neugeborenen Mäuse in der Getreidekammer. Er hörte, wie Tascha blinzelte. Er hörte, wie Jervik sich ins Fäustchen lachte, wie Neeps in der Küche vor Ekel würgte und wie der Ausguck in der Einsamkeit des Krähennests schluchzend den Namen seines Mädchens (›Gwenny, Gwenny‹) hervorstieß. Er hörte eine Ratte, die heulend den Zorn von Rins Engel herabbeschwor. Er hörte, wie Rose im Schlaf ›Mutter!‹ flüsterte.
    Aber die Geräusche der Chathrand waren nur ein laues Lüftchen im Sturm. Pazel konnte hören, wie sich alle Wellen der Nelu Peren an jedem Felsen, jedem Floß, jeder Seemauer des arqualischen Reiches brachen. Er konnte die verschiedenen Winde hören, die sich wie Schneewechten über die Welt hinwegwälzten, Meile um Meile, bis sie sich schließlich abschwächten zum Flötengesang des eisigen Nichts. Er hörte Meeresschildkröten in Bram an einem warmen Strand aus den Eiern schlüpfen. Er hörte, wie ein Wesen, das um ein Vielfaches länger war als die Chathrand, auf dem Grund der Nelluroq einen Wal verschlang.
    Dann legte sich eine sanfte Brise über den Zyklon und zähmte ihn. Pazel erkannte Ramachnis Atem, er floss hinein in den brodelnden Kessel und dämpfte die Geräusche – ganz und gar. Innerhalb von Sekunden herrschte Stille – sogar sein eigener Herzschlag war verstummt. Es war, als wäre die Welt tot oder für alle Ewigkeit eingeschlossen in einen Diamanten. Und in diese vollkommene Stille hinein sprach Ramachni drei Worte.
     
    *     *     *
     
    Er wollte sich aufrichten. Schwindel, Benommenheit. Tascha stolperte auf einen Sessel zu. Ramachni lag zitternd neben ihm.
    Was war geschehen? Wie viel Zeit war vergangen? Pazel musste plötzlich daran denken, wie er Jahre zuvor, dem Tod nur knapp entronnen, aufgewacht war und gesehen hatte, wie hoch die Lilien im Garten seiner Mutter gewachsen waren. Aber nein, diesmal nicht. Diesmal waren nur Minuten vergangen, keine Wochen, und er war nicht krank. Nur bis an den Rand des Wahnsinns erfüllt von Erinnerungen an all die Geräusche.
    »Ich konnte die ganze Welt atmen hören«, sagte er.
    Ramachni hob langsam, wie unter Schmerzen den Kopf. Pazel begegnete seinem Blick.
    »Die Worte«, sagte er. »Ich habe sie. Ich spüre sie in meinem Kopf! Aber was bewirken sie?«
    »Es sind die einfachsten Meisterworte. Aber wenn du sie aussprichst, werden sie zu Zaubersprüchen von sagenhafter Macht. Das eine zähmt Feuer. Das zweite verwandelt lebendes Fleisch in Stein. Und das dritte macht blind, um neues Sehen zu schenken.«
    »Blind, um neues Sehen zu schenken? Wie soll ich das verstehen?«
    »Du wirst es verstehen, wenn es an der Zeit ist.«
    »Seht euch den Raum an«, sagte Tascha zerstreut. »Wie nach einer Katastrophe.«
    Sie hatte Recht. Ein Wirbelwind schien durch den Gästesalon gerast zu sein. Die Bilder hingen schief, die Stühle waren umgefallen, überall waren Kuchenkrümel verstreut. Taschas Haar war zerzaust, das silberne Halsband hing ihr schief über der Schulter, sie sah aus, als wäre sie eben von einem Mast herabgestiegen.
    Ramachni berührte Pazels Arm. »Vergiss nicht: Jedes Wort wird für immer gelöscht, sobald du es aussprichst. Von deiner Entscheidung hängt alles ab. Höre auf dein Herz und wähle gut.«
    Keuchend wie ein alter Mann kroch er von der Fensterbank. Tascha eilte auf ihn zu und nahm ihn auf den Arm. Sie wirkte plötzlich sehr besorgt.
    »Sei stark, mein tapferer Streiter«, sagte Ramachni zu ihr. »Und jetzt hole mir Hercól, damit er

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