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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Redick
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    Pazels Atemzüge wurden kürzer. Das Tier in seinem Kopf erwachte, streckte sich und fuhr langsam die Krallen aus. Er wusste nicht, was es war oder warum es in der Höhle zwischen seinen Ohren hauste, aber er wusste, was es mit ihm anstellte. Es schenkte ihm die Sprache. Und es raubte sie ihm.
    Schuld daran war seine Mutter Suthinia. Angefangen hatte es zu Hause, in Ormael, nur wenige Monate vor dem Einfall der Arqualier. Der Winter ging mit Stürmen zu Ende, und bei solchem Wetter war Suthinia besonders seltsam und unerträglich. Sie zankte mit Chadfallow herum, als er zum Essen kam und sah, dass Pazel und Neda an den schrumpeligen Kartoffeln vom vergangenen Jahr herumkauten: Suthinia hatte in ihrer Verwirrung vergessen, auf den Markt zu gehen. Manchmal schien sie wie von Sinnen. Bei Gewitter stellte sie sich mit ausgebreiteten Armen auf das Dach, obwohl Chadfallow beteuerte, damit könne man den Blitz auf sich ziehen. An diesem Abend hatte sie einen heftigen Streit mit Chadfallow, Pazel lag wach und lauschte, aber die Erwachsenen achteten trotz ihrer Erregung darauf, leise zu sprechen, und so hörte er nur einen besonders verzweifelten Aufschrei seiner Mutter: »Und wenn es nun deine wären, Ignus? Dann würdest du doch genauso handeln! Du könntest sie nicht in die Nacht hinausschicken, wie sie jetzt sind, heimatlos und ohne Freunde …«
    »Ohne Freunde?« Das klang tief gekränkt. »Ohne Freunde, sagst du?«
    Augenblicke später hörte Pazel die Schritte des Arztes im Garten, dann fiel das Tor klirrend ins Schloss.
    Am nächsten Morgen begann Pazels Mutter, brummig wie ein Bär und zweimal so gefährlich, wieder zu kochen. Sie machte Maiskuchen mit Pflaumensauce, sicher ein Rezept von Pazels und Nedas Vater, und als die beiden aufgegessen hatten, goss sie jedem einen großen Becher Stechapfelmus ein.
    »Trinkt das«, befahl sie. »Es ist gesund.«
    Pazel schnupperte an seinem Becher. »Es riecht sauer«, sagte er.
    »Ganz besondere Früchte, sehr teuer. Trinkt, trinkt!«
    Sie würgten den widerlichen Brei hinunter. Nach dem Mittagessen füllte sie ihnen die Becher wieder, und das Zeug schmeckte noch schlechter. Neda, die schon siebzehn war und viel von der Welt wusste, erklärte ihm, ihre Mutter leide unter ›weiblichem Unwohlsein‹, und das in so ernstem Ton, dass Pazel sich schämte, weil ihm ihr Essen nicht schmeckte. Doch als es Abend wurde, stand sie mit einer großen Steinschale im Garten und zerdrückte wie besessen die Stechäpfel mit den Fingern. Diesmal konnte sie ihre Kinder nur mit Drohungen an den Tisch holen.
    Als sie endlich saßen, stellte sie einen großen Krug mit der glibbrigen Masse vor sie hin.
    Neda rümpfte die Nase. »Können wir nicht wenigstens vorher essen?«
    Suthinia füllte die Becher. »Das ist euer Essen. Trinkt.«
    »Mutter«, sagte Pazel vorsichtig, »ich mag kein Stechapfelmus.«
    »ES WIRD ALLES AUSGETRUNKEN!«
    Sie gehorchten. Pazel hätte nie gedacht, dass man sich so elend fühlen könnte. Beim zweiten Becher bekam er Bauchschmerzen, und beim vierten war ihm klar, dass seine Mutter sie vergiften wollte, denn sie selbst nahm keinen einzigen Schluck. Als der Krug endlich leer war, durften sie aufstehen, aber sie konnten nur noch in ihre Zimmer taumeln, sich hinlegen und die schmerzenden Bäuche halten. Wenige Minuten nachdem Pazel ins Bett gekrochen war, wusste er nichts mehr.
    In dieser Nacht träumte er, seine Mutter käme mit einem Käfig voller Singvögel in sein Zimmer. Es waren schöne bunte Vögel, und ihr Gezwitscher nahm in der Luft Gestalt an und legte sich wie ein Spinnennetz über den Raum. Jedes Mal, wenn sie wiederkam, woben die Vögel eine neue Schicht, bis ein dichtes Gespinst aus Tönen von Wänden, Schrank und Bettpfosten hing. Dann rief seine Mutter »Aufwachen!« und Pazel schnappte nach Luft und fuhr in die Höhe. Er war allein, und sein Zimmer sah aus wie immer. Doch der Traum hatte ihm ein letztes verrücktes Bild hinterlassen: Als er erwachte, waren die Vogelstimmennetze nicht einfach verschwunden, sondern mit dem ersten keuchenden Atemzug in seinen Mund gerauscht, als hätte er sie in sich eingesogen.
    Drei Überraschungen erwarteten ihn, als er sein Zimmer verließ. Erstens saß Neda am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, und schien seit dem Abend zuvor deutlich abgemagert zu sein. Zweitens kniete seine Mutter in noch schlechterer Verfassung vor seiner Schwester und bat weinend: »Verzeih mir, mein Liebling, verzeih.« Und drittens

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