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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Redick
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waren im Garten zwei Fuß hohe Lilien gewachsen.
    Seine Mutter hob den Kopf, stieß einen Freudenschrei aus, lief ihm entgegen und schloss ihn in die Arme.
    Fast hätte sie es geschafft, ihre Kinder zu vergiften: Beide hatten einen Monat lang an der Schwelle des Todes gestanden. Pazel erwiderte die Umarmung, und als sie ihm ihren Elfenbeinwal in die Hand drückte und ihn bat, ihn für immer zu behalten, versprach er es. So kannte er seine Mutter; jene andere Frau, die Stürme anbetete und Stechäpfel auf den Tisch brachte, war eine Zigeunerin, die hin und wieder in sein und Nedas Leben trat und alles zerstörte. Diese Mutter zu lieben war nicht schwer. Sie beschützte das Haus vor der großen Welt draußen und sang ihm Wiegenlieder aus dem Hochland vor, und wenn er am Rand des Obstgartens in die Brombeerhecken fiel, entfernte sie die Stacheln mit einer Pinzette und dem Vergrößerungsglas seines Vaters.
    Sollte allerdings in diesem Haus jemals wieder ein Stechapfel auf den Tisch kommen, dann würde er einfach weglaufen.
    Das Schnurren begann vier Tage nach seinem Erwachen aus dem Todesschlaf. Es war ein warmes, fast angenehmes Geräusch. Als er seiner Mutter davon erzählte, legte sie das Hemd beiseite, das sie gerade flickte, trat vor ihn hin und drückte mit einem Finger sein Kinn fest nach oben.
    »Pazel«, sagte sie, »ich heiße Suthinia. Ich bin deine Mutter. Kannst du mich verstehen?«
    »Aber natürlich, Mutter.«
    »Die Gänse fliegen nach Osten, um die Drachen zu jagen.«
    »Was denn für Gänse?«
    Anstelle einer Antwort zerrte sie ihn in die Bibliothek seines Vaters und zog einen halb zerfallenen Band aus dem Regal. Sie zeigte auf den Buchrücken und befahl ihm, den Titel zu lesen. Pazel gehorchte: »Die großen Familien von Jitril. Mit Zeichnungen ihrer schönsten Herrenhäuser und …«
    »Aha!«, rief sie triumphierend.
    Sie küsste ihn auf die Stirn, lief aus dem Zimmer und rief nach Neda. Pazel sah sich das Buch noch einmal an, und nun begriff er, dass der Titel, den er eben gelesen hatte, in einer ihm unbekannten Sprache geschrieben war. Sein Vater hatte das Buch vor langer Zeit auf einer Reise nach Jitril gekauft – nur wegen seiner Zeichnungen; die Texte konnte weder er selbst noch sonst jemand aus ihrem Bekanntenkreis lesen. Aber Pazel konnte es. Wahllos schlug er eine Seite auf. »… dieser gefürchtete Häuptling, die Geißel der Rekere, mit seinem pompösen Schnurrbart …«
    Mutter, dachte Pazel. Du bist eine Hexe.
    Er hatte Recht: Sie war eine Hexe, eine Seherin oder eine Zauberin, genau wie es die braven Bürger von Ormael immer schon befürchtet hatten. Aber als solche wohl nicht besonders fähig. Bei Neda zeigte sich die Gabe nicht. Bei ihr war keinerlei Veränderung festzustellen, außer dass ihr Haar weiß wurde wie bei einer alten Frau. Als Neda erkannte, dass sie weder Jitril lesen noch gesprochenes Madinga verstehen konnte, warf sie ihrer Mutter einen Blick zu, den Pazel sein Leben lang nicht vergessen sollte. Es lag kein Zorn darin, nur eine einfache Erkenntnis: Sie hätte ihre Tochter beinahe umgebracht – für nichts.
    »Vielleicht kommt es erst, wenn du erwachsen bist«, sagte Suthinia, und Neda zuckte die Achseln.
    Obwohl Pazel noch sehr schwach war, schlugen die Flammen der Begeisterung in ihm hoch. Er aß fünf Eier und neun Scheiben Speck, dann rannte er in die Stadt. Er ärgerte sich, in Ormael nur auf so wenige Sprachen zu treffen, bis er den Hafen erreichte. Dort schmähten Kaufleute aus Kuschal den hiesigen Wein; alte Männer aus dem Hinterland fürchteten, der Regen könnte ausbleiben; mundfaule Nunekkam schwatzten in ihren Kuppelbooten über den Krabbenfang; und ein glutäugiger Fanatiker mit Blasen an den bloßen Füßen krakeelte in einer Sprache, die sonst niemand verstand, etwas von einer bevorstehenden Invasion.
    Beim ersten Mal blieb ihm die Gabe drei Tage lang erhalten – und endete, wie von da an immer, in einem Hirnkrampf.
    Es war grauenvoll. Kalte Klauen schlugen sich in seinen Kopf, der Stechapfelgeschmack füllte Mund und Nase, und das Schnurren steigerte sich zu irrem Kreischen. Pazel rief nach seiner Mutter. Aber aus seinem Mund kamen nur sinnlose Laute wie bei einem Säugling, Geräusche.
    Auch seine Mutter und Neda faselten sinnloses Zeug. »GwafamogafwaPazel! Magwathalol! Pazelgwenaganenebarlooch!«
    Er schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu, aber die Stimmen ließen sich nicht aussperren. Als er die Augen wieder öffnete, deutete Neda auf

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