Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winslow, Don

Winslow, Don

Titel: Winslow, Don Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tage der Toten
Vom Netzwerk:
bewachen
lassen. Aber die sizilianische Mafia würde mich nicht so nah heranlassen, das
ist der Unterschied. Ihre mexikanischen Vettern sehen das lockerer. Sie
glauben sich in Sicherheit.
    Womit sie wahrscheinlich recht haben.
    Eins aber fragt sich Keller: Warum treffen sie sich hier? Tío besitzt ein
halbes Dutzend Lokale in Guadalajara, nicht aber das Talavera. Warum
veranstaltet er seine Gipfeltreffen nicht auf eigenem Terrain?
    Vielleicht weil sich Tío dann eindeutig als M -i zu erkennen gibt.
    Jetzt halten keine Autos mehr, Keller richtet sich auf eine lange
Wartezeit ein. So etwas wie ein schnelles mexikanisches Essen gibt es nicht,
und die Tagesordnung hat es wahrscheinlich in sich. Mein Gott, was würde ich
drum geben, wenn ich in diesem Lokal eine Wanze verstecken könnte!
    Er zieht einen KitKat-Riegel aus der Hosentasche, wickelt ihn aus, bricht
zwei Stücken ab und steckt den Rest zurück in die Tasche, weil er nicht weiß,
wie lange er auf die nächste Mahlzeit warten muss. Dann dreht er sich auf den
Rücken, kreuzt die Arme auf der Brust, um die Kälte abzuhalten, und legt erst
mal ein Nickerchen ein, gönnt sich ein paar Stunden unruhigen Schlaf, bis ihn
Stimmen und das Klappen von Autotüren wecken.
    Showtime!
    Er geht wieder in Stellung und sieht, wie sie alle herauskommen, vor dem
Lokal verweilen. Wenn es keine Federación gibt, denkt Keller, dann ist das hier verdammt gut
gespieltes Theater. Alle stehen locker und unbefangen herum, lachen, schütteln
Hände, zücken ihre kubanischen Zigarren und geben sich gegenseitig Feuer,
während sie darauf warten, dass ihre Lakaien, die Federales, die Wagen
vorfahren.
    Den Rauch und das Testosteron rieche ich bis hier oben, denkt Keller.
    Alles ändert sich mit einem Schlag, als das Mädchen aus der Tür tritt.
    Was für ein Anblick! Eine junge Liz Taylor, doch mit olivfarbener Haut und
dunklen Augen unter langen Wimpern. Aufreizend blickt sie in die Runde,
während ein älterer Mann, der ihr Vater sein dürfte, nervös lächelnd in der Tür
steht und den Gomeros ein adiós zuwinkt.
    Aber die wollen gar nicht weg.
    Gúero Méndez ist so
hingerissen von dem Mädchen, dass er seinen Cowboyhut abnimmt. Was bei
ungewaschenem Haar nicht besonders gut kommt, denkt Keller. Doch jetzt macht er
sogar einen Bückling, verbeugt sich tief, schleift seinen Hut übers Pflaster
und grinst das Mädchen an.
    Seine silbernen Zähne blitzen im Licht der Laternen.
    Bravo, Gúero, denkt Keller, damit kriegst du sie.
    Tío kommt dem
Mädchen zu Hilfe. Er legt den Arm geradezu väterlich um Gúeros Schultern und
führt ihn mit elegantem Schwung zu seinem Auto, das gerade eben vorfährt. Bei
der Abschiedsumarmung aber blickt Gúero noch einmal über Tíos Schulter zu dem
Mädchen hinüber, bevor er einsteigt.
    Das muss wahre Liebe sein, denkt Keller. Zumindest echte Gier.
    Nachdem sich Ábrego mit einem würdevollen Handschlag verabschiedet hat, kehrt Tío zu dem Mädchen
zurück, verbeugt sich und küsst ihre Hand.
    Eine lateinamerikanische Höflichkeitsgeste?, fragt sich Keller.
    Oder... Nein...
     
    Aber am nächsten Tag geht Keller zum Lunch ins Talavera.
    Das Mädchen heißt Pilar, und natürlich ist sie Talaveras Tochter.
    Sie sitzt in der hinteren Ecke, scheinbar über einem Schulbuch brütend,
doch ab und zu dreht sie sich in den Hüften und schaut unter ihren langen
Wimpern hervor, wie um festzustellen, ob sie vielleicht einer anstarrt.
    Alle Kerle in diesem Lokal starren sie an, denkt Keller.
    Sie sieht älter aus als fünfzehn, abgesehen von einer Spur Babyspeck und
dem noch halb kindlichen Schmollmund, den ihre aufreizend vollen Lippen perfekt
hinbekommen. Obwohl sich Keller fast dafür schämt, taxiert er ihre ganz und gar
nicht mehr kindlichen Proportionen. Dass sie wirklich erst fünfzehn ist, bestätigt
sich erst, als ihre Mutter kommt, sich zu ihr setzt und sie lautstark daran
erinnert.
    Und Papa blickt jedes Mal ängstlich hoch, wenn die Tür aufgeht. Warum zum
Teufel ist er so nervös?, fragt sich Keller.
    Und wird sogleich aufgeklärt.
    Tío kommt zur Tür
herein.
    Keller sitzt mit dem Rücken zur Tür, und Tío geht direkt an
ihm vorbei - vorbei an seinem lang vermissten Neffen, ohne es zu merken, weil
er nur Augen für das Mädchen hat. Und Blumen in der Hand. So wahr mir Gott
helfe, denkt Keller, er umklammert einen Blumenstrauß mit seinen schlanken
Fingern und hat zu allem Überfluss eine Bonbonniere unter dem Arm.
    Tío ist gekommen,
um ihr den Hof zu

Weitere Kostenlose Bücher