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Winslow, Don

Winslow, Don

Titel: Winslow, Don Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tage der Toten
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Wörter fallen ihr nicht ein.
    Plötzlich öffnet sich die Fahrstuhltür, und Wasser strömt heraus - wie in
einem grotesken Horrorfilm. Die Frau dreht sich zu Nora um, lacht und sagt »agua«.
    »Vamos«, sagt Nora. »V amónos, wie auch immer. Kommen Sie!«
    Sie nimmt die Frau bei der Hand und will sie durch den Flur ziehen, aber
die Frau rührt sich nicht von der Stelle. Sie entzieht ihr die Hand und drückt
wieder und wieder auf den Fahrstuhlknopf.
    Nora lässt sie stehen und findet die Tür zum Treppenhaus. Der Boden wogt
und wellt sich unter ihren Füßen. Im Treppenhaus kommt sie sich vor wie in
einem schwankenden Schacht. Sie wird von einer Seite zur anderen geworfen,
während sie die Stufen hinabrennt. Vor ihr sind jetzt Leute und hinter ihr
auch, die Treppe bevölkert sich. Geräusche, entsetzliche Geräusche hallen im
Treppenschacht wider: Krachen, Bersten, das Ächzen eines Hauses, das zerrissen
wird - und Schreie -, Schreie von Frauen, die gellenden Schreie von Kindern.
Sie sucht Halt am Geländer, aber das bewegt sich auch.
    Von Treppenabsatz zu Treppenabsatz versucht sie, die Etagen zu zählen,
dann gibt sie es auf. Sind es drei, vier oder fünf? Sie weiß, dass sie sieben
schaffen muss. Idiotischerweise weiß sie nicht, wie die in Mexiko gezählt
werden. Fangen sie mit dem Erdgeschoss an zu zählen oder mit dem ersten Stock?
    Egal, nichts wie runter, sagt sie sich und wird von einer schrecklichen
Schlingerbewegung gegen die linke Wand geworfen. Sie hält die Balance, fasst
wieder Tritt. Einfach weiterrennen, die Treppe runter, raus hier, bevor alles
über dir zusammenbricht.
    Aus irgendeinem Grund muss sie an die steilen Treppen des Montmartre
denken, man kann auch die Seilbahn benutzen, sie läuft aber, weil es gut für
die Wadenmuskeln ist und auch, weil es ihr Spaß macht und sie sich dann zur
Belohnung eine Chocolat chaud in dem drolligen Café am Fuß der Treppen genehmigt. Da will ich wieder hin, denkt sie, im
Straßencafe sitzen, mich vom Kellner anlächeln lassen, die Leute beobachten,
die lustige Kathedrale Sacre Coeur dort oben sehen, die aussieht wie aus Zucker
gesponnen.
    Denk an so was, denk an so was, nicht daran, in dieser Falle zu sterben,
dieser schwankenden, von Menschen vollgestopften Todesfalle. Gott, wird das
heiß hier drinnen, mein Gott, schrei nicht so, das nützt nichts, halt lieber
die Klappe, ah, endlich ein Luftzug, jetzt stauen sich die Leute vor ihr, dann
bricht der Stau auf, und sie wird mit einem ganzen Pulk in die Lobby gespült.
    Kronleuchter fallen von der Decke wie faule Früchte und zerkrachen auf
dem Kachelboden. Sie läuft über Scherben zu den Drehtüren, die sind total
verstopft, sie muss gar nicht pressen, schieben, weil andere hinter ihr
nachschieben. Wieder ein frischer Lufthauch, wunderbar, sie sieht trübes
Sonnenlicht, ist schon fast draußen -
    Da bricht das Hotel über ihr zusammen.
     
    Er liest gerade die Messe, als es geschieht.
    Zehn Meilen vom Epizentrum entfernt, in der Kathedrale von Ciudad Guzmán, hebt Erzbischof Parada die Hostie in die Höhe und spricht das Gebet. Es gehört zu den
Annehmlichkeiten und Privilegien des Erzbischofs der Erzdiözese Guadalajara,
dass er hier in dieser kleinen Stadt gelegentlich die Messe lesen kann. Er
liebt die klassische churriguereske Bauweise der Kathedrale, die Verschmelzung
des spanischen Barock mit den heidnischen Motiven der Maya und Azteken,
wie es sie nur in Mexiko gibt. Zwei barocke Türme mit präkolumbianischen
Turmhauben flankieren die große, mit bunten Kachelmustern verzierte Kuppel.
Auch jetzt, während er den Blick auf den Retablo hinterm Altar richtet, sieht er die vergoldeten
Schnitzereien - europäische Putten neben landestypischen Früchten, Blumen und
Vögeln.
    Diese Farbenfülle, diese Liebe zur Natur, diese Lebenslust ist es, was ihn
an der mexikanischen Spielart des Katholizismus so sehr begeistert, die
unbekümmerte Vermischung heidnischer Symbolik mit einem innigen,
unerschütterlichen Christusglauben. Das ist nicht die trockene, nüchterne
Religion des europäischen Intellektualismus mit ihrem Hass auf alles
Natürliche. Nein, die Mexikaner besitzen die angeborene Weisheit, die seelische
Spannweite - wie soll man sagen -, um diese und auch die nächste Welt mit einer
einzigen Umarmung zu vereinen.
    Das ist ganz hübsch formuliert, denkt er und dreht sich zur Gemeinde um.
Vielleicht kann ich das in meine nächste Predigt einbauen.
    Obwohl heute Donnerstag ist, sind ziemlich viele Leute

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