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Winslow, Don

Winslow, Don

Titel: Winslow, Don Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tage der Toten
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Flur.
    Draußen bebt sich Mexico City zu Tode.
    Die Stadt ist auf dem Grund eines ausgetrockneten Sees errichtet, auf
weichem Boden, unter dem die große tektonische Cocos-Platte ständig ihre Lage
verändert. Die Stadt und ihr weicher, lockerer Untergrund liegen gerade mal
zweihundert Meilen vom Rand der Cocos-Platte und einer der weltgrößten
tektonischen Verwerfungen entfernt - dem Mittelamerikanischen Graben, der unter
dem Pazifik verläuft und sich vom mexikanischen Seebad Puerto Vallarta bis
nach Panama erstreckt.
    Seit jähren schon kommt es zu kleineren Erbeben an den nördlichen und
südlichen Rändern der Platte, aber nicht in der Mitte, nicht in der Nähe von
Mexico City, weshalb die Geologen von einer »seismischen Lücke« sprechen. Die
Geologen vergleichen das mit einer Kette von Knallfröschen, die an beiden
Enden explodieren, aber nicht in der Mitte. Früher oder später, sagen sie, wird
auch die Mitte Feuer fangen und explodieren.
    Es beginnt dreißig Kilometer unter der Erdoberfläche. Seit urdenklichen
Zeiten will sich die Cocos-Platte absenken, unter den Rand der Platte, die sich
östlich von ihr befindet, und an diesem Morgen endlich gelingt es ihr. Vierzig
Meilen von der Küste entfernt, zweihundertvierzig Meilen westlich von Mexico
City, bricht die Erdkruste auf und sendet ein gewaltiges Beben durch die
Lithosphäre.
    Wäre die Stadt dem Epizentrum näher gewesen, hätte sie es vielleicht
besser ausgehalten. Die Hochhäuser hätten die schnellen Erschütterungen und
Vibrationen in der Nähe des Epizentrums vielleicht überlebt. Die Gebäude wären
in die Höhe gesprungen und hätten Risse bekommen, aber sie wären vielleicht
stehen geblieben.
    Doch wenn sich das Beben vom Ursprung entfernt, zerstreut sich seine
Energie, und das macht es wider alle Erwartung noch gefährlicher - wegen des
weichen Untergrunds. Das Beben verläuft sich in langen, langsamen
Wellenbewegungen - in einer Serie von Riesenwellen, wenn man so will, die das
Seebett durchlaufen, auf dem die Stadt erbaut ist. Der Untergrund wird zu einer
Schale mit Götterspeise, und die Götterspeise beginnt zu schwappen und mit ihr
die Gebäude, die sich nun hin und her bewegen statt auf und ab - und das ist
das Problem.
    Jede Etage der Hochhäuser neigt sich weiter zur Seite als die Etage
darunter. Die kopflastig gewordenen Gebäude schlagen förmlich aus, stoßen die
Köpfe zusammen und schwingen wieder zurück. Zwei lange Minuten schwanken sie
hin und her, dann brechen sie einfach zusammen.
    Betonplatten krachen auf die Straßen, Scheiben bersten, riesige,
zerklüftete Glasscherben zischen durch die Luft wie Geschosse. Innenwände
stürzen ein, mit ihnen die tragenden Stützen, Dach-Swimmingpools ergießen ihre
Wasserfluten über die darunterliegenden Dächer und bringen sie zum Einsturz.
    Manche Hochhäuser knicken über dem vierten oder fünften Stockwerk einfach
ein und kippen Beton, Steine und Stahl von drei, acht oder gar zwölf Etagen auf
die Straßen, reißen Menschen mit in die Tiefe und begraben sie unter dem
Schutt.
    Ein Haus nach dem anderen - zweihundertfünfzig in vier Minuten - wird von
den Wellen erfasst. Die Regierung wird im wahrsten Sinne des Wortes gestürzt -
die Flottenverwaltung, die Handelsabteilung, das Verkehrsministerium - alles
bricht in sich zusammen. Das Touristenzentrum ein einziger Trümmerhaufen -
Hotel Monte Carlo, Hotel Romano, Hotel Versailles, das Roma, das Bristol, das Ejecutivo, das Palacio, das Reforma, das
Inter-Continental und das Regis -, alles verschwindet. Die obere Hälfte des
Hotel Caribe bricht ab wie ein Streichholz, kippt Matratzen, Koffer, Vorhänge und Gäste
auf die Straße. Ganze Viertel werden praktisch vom Erdboden verschluckt - Colonia Roma, Colonia Doctores, Unidad Aragón und die Wohnanlage Tlatelolco, die von einem zwanzigstöckigen Wohnhaus
zermalmt wird. Mit einer besonders grausamen Volte zerstört das Beben auch das
Allgemeine Krankenhaus und das Juárez-Krankenhaus, tötet und verschüttet Kranke und die dringend
benötigten Ärzte und Schwestern.
    Nora weiß nichts von alldem. Sie rennt auf den Flur, wo sich
herausgefallene Zimmertüren ineinander verkanten wie die Karten eines
einstürzenden Kartenhauses. Eine Frau rennt vor ihr her und drückt auf den
Fahrstuhlknopf.
    »Nein!«, schreit Nora.
    Die Frau dreht
sich um, mit angstgeweiteten Augen. »Nicht den Fahrstuhl«, sagt Nora. »Zur
Treppe.« Die Frau starrt sie wortlos an.
    Nora versucht es auf Spanisch, aber die

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