Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Sie auch nicht festnehmen«, erklärte Wolodja ruhig und zog seinen Dienstausweis aus der Tasche. »Ich bin Leutnant Peschkow, GRU . Und wer sind Sie?«
»Dworkin, NKWD «, sagte der Rattengesichtige und zeigte auf den Mann im Ledermantel. »Und das ist Berezowski, ebenfalls NKWD .«
Geheimpolizei. Wolodja stöhnte innerlich auf. Er hätte es wissen müssen. Die Zuständigkeiten der Geheimpolizei überschnitten sich mit denen des Militärgeheimdienstes. Man hatte Wolodja gewarnt, dass diese beiden Organisationen einander ständig auf die Füße traten; jetzt erlebte er es zum ersten Mal.
Er wandte sich an Dworkin, wobei er auf Markus zeigte. »Ich nehme an, Sie beide haben die Freundin dieses Mannes gefoltert.«
Wieder wischte Dworkin sich die Nase mit dem Ärmel ab. Offensichtlich war diese unappetitliche Angewohnheit nicht Teil seiner Tarnung. »Die Frau hatte keine Informationen.«
»Also haben Sie ihr für nichts und wieder nichts die Brustwarzen verbrannt.«
»Sie hat noch Glück gehabt. Wäre sie wirklich eine Spionin gewesen, wäre es ihr viel schlimmer ergangen.«
»Und Ihnen ist nicht der Gedanke gekommen, sich vorher mit uns abzusprechen?«, fragte Wolodja gereizt.
»Wann haben Sie sich denn schon mal mit uns abgesprochen?«
»Ich gehe jetzt«, verkündete Markus.
Wolodja war verzweifelt. Er stand kurz davor, seinen wichtigsten Informanten zu verlieren. »Geh nicht«, sagte er mit flehendem Unterton. »Wir werden Irina irgendwie entschädigen. Wir werden ihr eine ordentliche Krankenhausbehandlung zukommen lassen und …«
»Leck mich am Arsch!«, zischte Markus. »Du siehst mich nie wieder.«
Er verließ die Kneipe.
Dworkin wusste nicht, was er tun sollte. Er wollte Markus nicht einfach gehen lassen, konnte ihn aber auch nicht verhaften, ohne dumm dazustehen. Schließlich sagte er zu Wolodja: »Sie sollten nicht zulassen, dass man in diesem Ton mit Ihnen redet. Damit zeigen Sie Schwäche. Die Leute sollten Sie respektieren.«
»Sie verdammter Blödmann«, schimpfte Wolodja. »Sehen Sie denn nicht, was Sie getan haben? Dieser Mann war eine erstklassige Informationsquelle. Jetzt wird er nie wieder für uns arbeiten. Und das alles nur, weil Sie Mist gebaut haben.«
Dworkin zuckte mit den Schultern. »Sie haben es vorhin selbst gesagt: Manchmal fordert der Kampf nun mal Opfer.«
»O Gott«, seufzte Wolodja und verließ die Bar.
Ihm war ein wenig übel, als er wieder den Fluss überquerte. Der Gedanke, was der NKWD einer unschuldigen Frau angetan hatte, erfüllte ihn mit Abscheu. Außerdem schmerzte ihn der Verlust seines wichtigsten Informanten.
Wolodja stand noch nicht hoch genug im Rang, als dass ihm ein eigenes Auto zugestanden hätte, also stieg er in eine Straßenbahn. Während die Bahn sich durch den Schnee quälte, brütete er vor sich hin. Er musste Major Lemitow Bericht erstatten, doch er zögerte. Wie sollte er seine Geschichte darbieten? Auf jeden Fall musste er deutlich machen, dass er keine Schuld an dem Fiasko trug. Es durfte aber nicht so aussehen, als suche er nach Entschuldigungen.
Die Zentrale der GRU befand sich am Rand des Flugplatzes Chodynka, wo ein Schneepflug geduldig auf und ab fuhr und die Rollbahn frei machte. Die Architektur der Anlage war ungewöhnlich: Ein zweistöckiges, nach außen fensterloses Gebäude umschloss einen großen Hof, in dem wiederum ein neunstöckiges Gebäude stand. Die Sicherheitsmaßnahmen waren enorm. Man wurde gleich mehrmals durchsucht, wenn man hineinwollte. Aber wer wollte das schon, wenn man nicht hier angestellt war? Die meisten Moskowiter hielten sich so fern wie möglich von hier.
Wolodja teilte sich ein Büro mit drei weiteren Subalternoffizieren. An gegenüberliegenden Wänden standen je zwei Stahlschreibtische. Das Büro war so klein, dass Wolodjas Tisch ein vollständiges Öffnen der Tür verhinderte.
Kamen, der Büroklugscheißer, sah Wolodjas geschwollene Lippe. »Lass mich raten«, sagte er. »Ihr Mann ist früher nach Hause gekommen.«
»Frag nicht«, murmelte Wolodja.
Auf seinem Schreibtisch lag ein entschlüsselter Text aus der Funküberwachung. Silbe für Silbe waren die deutschen Wörter unter die Codezeichen geschrieben.
Die Nachricht stammte von Werner.
Wolodjas erste Reaktion war Angst. Hatte Markus bereits berichtet, was mit Irina passiert war, und Werner davon überzeugt, sich aus dem Spionagegeschäft zurückzuziehen? Heute war schonso viel schiefgegangen, dass Wolodja sich nicht mehr darüber gewundert
Weitere Kostenlose Bücher