Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
verhören, wenn er nicht mit uns kooperiert.«
Wolodja versuchte, seine Abscheu zu verbergen. Er durfte nicht zimperlich erscheinen. Außerdem erkannte er, dass Lemitows Plan tatsächlich aufgehen konnte. »Jawohl, Genosse Major.«
»Und sagen Sie ihm, dass wir seiner Freundin diesmal die brennende Zigarette woandershin schieben«, fuhr Lemitow fort.
Wolodja hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen. Er schluckte. »Jawohl«, sagte er. »Ich werde sie sofort abholen.«
»Morgen reicht«, sagte Lemitow. »Um vier Uhr früh. Dann ist der Schock umso größer.«
»Jawohl, Genosse Major.« Wolodja ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Im Flur blieb er stehen und atmete tief durch. Ihm war übel und schwindlig. Erst als ein vorbeikommender Angestellter ihn argwöhnisch musterte, zwang er sich weiterzugehen.
Er würde gehorchen müssen. Aber er würde Irina auf keinen Fall foltern; die bloße Drohung genügte. Allerdings würde Irina glauben , dass man sie noch einmal foltern wollte, und das würde ihr Todesangst einjagen. Wolodja war sicher, er würde den Verstand verlieren, wäre er an Irinas Stelle gewesen.
Als er in die Rote Armee eingetreten war, hatte er keine Gedanken daran verschwendet, solche Dinge tun zu müssen. Sicher, als Soldat konnte er jederzeit in die Situation kommen, andere Menschen töten zu müssen, aber unschuldige Mädchen foltern …?
Das Gebäude leerte sich. In den Büros wurde das Licht ausgeschaltet, und Männer traten mit Kappen und Mützen auf die Flure hinaus. Feierabendzeit. Wolodja ging noch einmal in sein Büro zurück, rief bei der Militärpolizei an und befahl, ihm um halb vier morgens einen Trupp zur Verfügung zu stellen, um Irina zu verhaften. Dann zog er seinen Mantel an und nahm die Bahn nach Hause.
Wolodja lebte bei seinen Eltern, Grigori und Katherina, und seiner Schwester, der neunzehnjährigen Studentin Anja. Während der Fahrt fragte er sich, ob er mit seinem Vater über die Sache mit Irina sprechen konnte. Doch er kannte die Antwort bereits. Solche Dinge waren eine vorübergehende Notwendigkeit. Die Revolution musste gegen Spione und subversive Elemente verteidigt werden, die im Lohn der Kapitalisten standen.
Nach ihrer Rückkehr aus Berlin war Familie Peschkow in ein Haus der Regierung gezogen, das schlicht »Haus am Ufer« genannt wurde. Es war eine Mietskaserne am Ufer der Moskwa, direkt dem Kreml gegenüber. Hier wohnten nur Mitglieder der sowjetischen Elite. Das Haus am Ufer war ein großes Gebäude im sozialistischen Stil und beherbergte mehr als fünfhundert Wohnungen.
Wolodja nickte dem Militärpolizisten an der Tür zu und durchquerte den großen Eingangsbereich. Er war so riesig, dass hier manchmal Musikkapellen zu Tanzabenden aufspielten. Am anderen Ende der Lobby stieg Wolodja in den Aufzug. Die Wohnung der Peschkows war mit Telefon und Warmwasseranschluss ausgestattet und für sowjetische Verhältnisse geradezu luxuriös, war aber längst nicht so komfortabel wie ihre Wohnung damals in Berlin.
Katherina, Wolodjas Mutter, war in der Küche. Sie war eine lieblose Köchin und Hausfrau, aber Wolodjas Vater vergötterte sie. 1914, in St. Petersburg, hatte er sie vor den unerwünschten Avancen eines brutalen Polizisten gerettet, und seitdem liebte er sie. Für ihre dreiundvierzig Jahre war Katherina noch immer außergewöhnlich attraktiv; außerdem hatte sie in Berlin gelernt, sich eleganter und stilsicherer zu kleiden als die meisten anderen russischen Frauen. Allerdings achtete sie sehr darauf, nicht zu »westlich« auszusehen, was in Moskau als schweres Vergehen galt.
»Hast du dir den Mund verletzt?«, fragte sie, nachdem Wolodja sie zur Begrüßung geküsst hatte.
»Ach, das ist nichts.« Wolodja roch Hühnchen; so etwas gab es für gewöhnlich nur zu besonderen Anlässen. Verwundert fragte er: »Gibt es was zu feiern?«
»Anja bringt ihren Freund zum Abendessen mit.«
»Sag bloß! Ein Kommilitone?«
»Ich glaube nicht. Ich weiß nicht, was er macht.«
Wolodja freute sich. Er liebte seine Schwester, wusste aber auch, dass sie keine Schönheit war. Sie war klein und stämmig und trug vorzugsweise unförmige Kleidung in gedeckten Farben. Sie hatte noch nicht viele Freunde gehabt; umso mehr freute es Wolodja, dass sie diesmal einen Verehrer gefunden hatte, der sie und ihre Eltern zu Hause besuchte.
Wolodja ging in sein Zimmer, zog die Jacke aus und wusch sich Gesicht und Hände. Die Schwellungen an seinen Lippen waren fast
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