Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
abgeklungen. Markus hatte ihn nicht allzu hart getroffen. Als Wolodja sich die Hände abtrocknete, hörte er draußen Stimmen. Offenbar waren Anja und ihr Freund erschienen.
Er zog sich eine bequeme Strickjacke an und ging in die Küche. Anja saß am Tisch. Neben ihr hatte ein kleiner, rattengesichtiger Mann Platz genommen. Wolodja erkannte ihn auf den ersten Blick. »O nein«, sagte er. »Das gibt’s doch nicht!«
Der Mann war Ilja Dworkin, der NKWD -Agent, der Irina verhaftet hatte. Er hatte seine Verkleidung abgelegt und trug nun einen normalen dunklen Anzug und gute Stiefel. Überrascht starrte er Wolodja an. »Natürlich … Peschkow!«, sagte er. »Das hätte ich mir denken können.«
Wolodja blickte seine Schwester an. »Sag mir jetzt bloß nicht, dass dieser Mann dein Freund ist.«
»Aber … was habt ihr denn? Was ist los?«, fragte Anja verwirrt.
»Dein Verehrer und ich sind uns heute schon einmal begegnet«, sagte Wolodja. »Er hat einen wichtigen militärischen Einsatz sabotiert, weil er seine Nase in Dinge gesteckt hat, die ihn nichts angehen.«
»Ich habe nur meine Arbeit gemacht«, erwiderte Dworkin und wischte sich die Nase mit dem Ärmel ab.
»Ja«, höhnte Wolodja. »Tolle Arbeit.«
Katherina versuchte die Situation zu retten. »Lasst uns bei Tisch nicht über die Arbeit reden«, sagte sie. »Wolodja, gieß unserem Gast bitte ein Glas Wodka ein.«
»Im Ernst?«, fragte er.
Seine Mutter funkelte ihn wütend an. »Ja, im Ernst!«
»Na gut.« Widerwillig nahm Wolodja die Flasche vom Regal. Anja holte die Gläser aus dem Schrank, und Wolodja schenkte ein.
Katherina nahm sich ein Glas. »Und jetzt lasst uns noch einmalvon vorn beginnen«, sagte sie. »Ilja, das ist mein Sohn Wladimir. Wir nennen ihn nur Wolodja. Wolodja, das ist Anjas Freund Ilja, der uns zum Essen besucht. Wollt ihr euch nicht die Hände geben?«
Wolodja blieb nichts anderes übrig, als dem Rattengesicht die Hand zu schütteln.
Katherina stellte kleine Speisen auf den Tisch: Räucherfisch, Gewürzgurken und Wurst. »Im Sommer haben wir auch Salat, den ich in unserer Datscha ziehe, aber um diese Jahreszeit gibt es so was nicht«, entschuldigte sie sich. Wolodja fiel auf, dass sie Ilja zu beeindrucken versuchte. Wollte Mutter wirklich, dass Anja diesen hässlichen Vogel heiratete? Es sah ganz danach aus.
Dann kam Grigori ins Zimmer. Er trug seine Armeeuniform, grinste übers ganze Gesicht, roch das Hühnchen und rieb sich die Hände. Er war ein rotgesichtiger, übergewichtiger Mann von achtundvierzig Jahren. Es fiel schwer, sich vorzustellen, dass er 1917 bei der Erstürmung des Winterpalastes dabei gewesen war. Damals musste er deutlich schlanker gewesen sein.
Grigori küsste seine Frau innig. Wolodja bemerkte immer wieder, wie dankbar seine Mutter für Grigoris ungebrochene Leidenschaft war, auch wenn sie diese nicht wirklich erwiderte. Sie lächelte, wenn er ihren Po tätschelte, drückte ihn, wenn er sie umarmte, und küsste ihn, sooft er wollte, aber nie ging es von ihr aus. Sie mochte ihn, achtete ihn und war glücklich mit ihm verheiratet. Aber sie verzehrte sich nicht nach ihm. Damit würde Wolodja sich in seiner Ehe nicht zufriedengeben. Bei ihm würde es anders sein.
Aber das waren müßige Gedanken. Wolodja hatte schon ein Dutzend kurze Beziehungen gehabt, aber noch keine Frau getroffen, die er hätte heiraten wollen.
Wolodja schenkte auch seinem Vater einen Wodka ein. Genüsslich leerte Grigori das Glas in einem Zug. Dann nahm er sich ein Stück Räucherfisch. »Erzählen Sie mal, Ilja«, sagte er, »was arbeiten Sie?«
»Ich bin beim NKWD «, antwortete Ilja stolz.
»Alle Achtung. Das NKWD ist hervorragend.«
Das war nicht Grigoris wirkliche Meinung, vermutete Wolodja; sein Vater wollte nur freundlich sein. Doch Wolodja hätte es lieber gesehen, wenn alle unausstehlich gewesen wären und Anjas Verehrer vertrieben hätten. »Ich nehme an, Vater«, sagte er zu Grigori, »dass wir die Geheimpolizei nicht mehr brauchen, wenn der Rest der Welt uns auf dem Weg zum Kommunismus folgt. Dann können wir den NKWD auflösen.«
»Wenn der Rest der Welt uns auf diesem Weg folgt, brauchen wir überhaupt keine Polizei mehr«, erwiderte Grigori. »Dann wird es keine Gerichtsverhandlungen mehr geben und keine Gefängnisse. Dann brauchen wir auch keine Spionageabwehr mehr, weil es ja keine Spione mehr gibt. Und auch keine Armee, denn wir haben ja keine Feinde mehr. Fragt sich allerdings, womit wir alle dann unseren
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