Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Jahre alt gewesen. Jetzt war er achtzehn, arbeitete im Reichsluftfahrtministerium, hasste die Nazis noch mehr als früher und hatte ein starkes Funkgerät und ein Codebuch. Und Wolodja war seine Kontaktperson. Werner war einfallsreich und mutig. Um Informationen zu sammeln, nahm er gewaltige Risiken auf sich.
Wolodja hatte Werner seit vier Jahren nicht mehr gesehen, erinnerte sich aber noch lebhaft an ihn. Groß und mit auffallendem rotblondem Haar, sah Werner älter aus, als er war, und verhielt sich auch so. Schon mit vierzehn hatte er beneidenswerten Erfolg bei den Frauen gehabt.
Vor Kurzem hatte er Wolodja auf einen Diplomaten an der deutschen Botschaft in Moskau aufmerksam gemacht, der mit den Kommunisten sympathisierte. Wolodja hatte »Markus« – so der Deckname – aufgesucht und als Spion rekrutiert. Seit einigen Monaten lieferte Markus nun regelmäßig Berichte, die Wolodja ins Russische übersetzte und an seinen Vorgesetzten weitergab – zuletzt einen faszinierenden Bericht darüber, wie amerikanische Wirtschaftsführer, die mit den Nazis sympathisierten, die rechtsgerichteten Rebellen in Spanien mit Lkws, Reifen und Öl versorgten. Der Vorstandsvorsitzende von Texaco, der Hitlerbewunderer Torkild Rieber, benutzte die Firmentanker, um damit Öl für die Rebellen zu schmuggeln, trotz der ausdrücklichen Bitte Präsident Roosevelts, darauf zu verzichten.
Auch jetzt war Wolodja wieder auf dem Weg zu Markus.
Er ging den Kutusow-Prospekt hinunter und bog zum Kiewer Bahnhof ab. Ihr heutiger Treffpunkt war eine Arbeiterkneipe in Bahnhofsnähe. Wolodja war in seinem Beruf extrem vorsichtig; deshalb trafen sie sich niemals zweimal am selben Ort. Aber sie wählten jedes Mal schäbige Kneipen und Cafés, die Markus’ Kollegen im Traum nicht besuchen würden. Sollte Markus aus irgendeinem Grund in Verdacht geraten, sodass ein deutscher Agent ihm folgte, würde Wolodja es sofort bemerken, denn ein solcher Mann fiel in dieser armseligen Umgebung unweigerlich auf.
Der Schuppen, in dem sie sich heute trafen, nannte sich Ukrainische Bar – ein Holzbau, wie die meisten Gebäude in Moskau. Die Fenster waren beschlagen, was Wolodja zeigte, dass es drinnen warm war. Aber er ging nicht sofort hinein. Erst mussten weitere Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden. Wolodja überquerte die Straße, huschte in den Eingang eines Mietshauses und stellte sich in den kalten Flur. Von dort konnte er die Kneipe durch das kleine Fenster im Auge behalten.
Er fragte sich, ob Markus überhaupt erscheinen würde. Bis jetzt war es zwar immer so gewesen, aber Wolodja konnte sich nie sichersein. Und sollte Markus kommen – was für Informationen brachte er mit? Spanien war derzeit das Thema in der internationalen Politik, aber der Nachrichtendienst der Roten Armee war besonders an Informationen über die deutsche Aufrüstung interessiert. Wie viele Panzer produzierten die Deutschen im Monat? Wie viele Mauser MG 34 täglich? Wie gut war der neue Bomber Heinkel He 111? Wolodja war versessen auf solche Informationen, die er an seinen Vorgesetzten, Major Lemitow, weitergeben konnte.
Eine halbe Stunde verging, ohne dass Markus sich blicken ließ.
Wolodja machte sich allmählich Sorgen. Hatte man Markus entlarvt? Er arbeitete als Sekretär des Botschafters; deshalb bekam er alles zu sehen, was über dessen Tisch ging. Doch Wolodja hatte ihn gedrängt, sich auch Zugang zu anderen Dokumenten zu verschaffen, besonders zur Korrespondenz des Militärattachés. War das ein Fehler gewesen? Hatte jemand beobachtet, wie Markus Telegramme gelesen hatte, die ihn nichts angingen?
Dann aber kam Markus die Straße hinunter. Mit seiner Brille, dem Bart und dem Lodenmantel, auf dem sich Schneeflocken sammelten, sah er wie ein Lehrer aus. Er verschwand in der Kneipe. Wolodja wartete und beobachtete weiter. Beunruhigt legte er die Stirn in Falten, als er sah, wie ein Mann kurz nach Markus die Kaschemme betrat. Doch es schien sich um einen russischen Arbeiter zu handeln, nicht um einen deutschen Agenten. Der Mann war klein, ungefähr in Wolodjas Alter, hatte ein Rattengesicht und trug einen zerschlissenen Mantel. Seine Stiefel waren in Lumpen gewickelt, und er wischte sich die tropfende Nase mit dem Ärmel ab.
Wolodja überquerte die Straße und betrat ebenfalls die Kneipe.
Das Innere war schmutzig und verräuchert, und es roch nach Schweiß und billigem Fusel. An den Wänden hingen ausgeblichene Aquarellbilder der ukrainischen Landschaft in schäbigen
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