Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
sich Ilja zum ersten Mal zu Wort. »Helfen diese Theorien auch der Revolution?«
Mit einem Mal funkelte Zorn in Zojas Augen, was sie Wolodja noch sympathischer machte. »Manche Genossen begehen den Fehler, praktische Forschung der reinen Wissenschaft vorzuziehen«, erklärte sie. »Aber technische Entwicklungen, zum Beispiel Neuerungen im Flugzeugbau, basieren letztendlich auf theoretischen Erkenntnissen.«
Wolodja verkniff sich ein Grinsen. Mit ihrer Bemerkung hatte Zoja dem Rattengesicht so ganz nebenbei einen Tritt in den Hintern verpasst.
Aber sie war noch nicht fertig. »Deshalb wollte ich mit Ihnen reden, Genosse«, sagte sie zu Grigori. »Wir Physiker lesen sämtliche wissenschaftlichen Publikationen aus dem Westen. Dumm wie sie sind, geben die Wissenschaftler dort ihr gesamtes Wissen preis. In letzter Zeit mussten wir erkennen, dass sie beunruhigende Fortschritte in der Atomphysik gemacht haben. Es besteht die große Gefahr, dass die sowjetische Wissenschaft ins Hintertreffen gerät, und zwar deutlich. Ich frage mich, ob Genosse Stalin davon weiß.«
Schweigen breitete sich aus. Jede noch so kleine Kritik an Stalin konnte einen in Lebensgefahr bringen. »Nun, das meiste weiß er«, sagte Grigori unverbindlich.
»Ja, natürlich«, entgegnete Zoja. »Aber vielleicht müssen treue Genossen wie Sie bisweilen seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge lenken.«
»Das kann vorkommen.«
Ilja sagte: »Ohne Zweifel ist Genosse Stalin der Meinung, dass die Wissenschaft im Einklang mit dem Marxismus-Leninismus stehen muss.«
Wolodja sah einen Anflug von Trotz in Zojas Augen, aber sie senkte den Blick. »Daran besteht nicht der geringste Zweifel«, sagte sie. »Wir Wissenschaftler müssen unsere Anstrengungen verdoppeln … für die Revolution.«
Das war Schwachsinn, und das wussten alle, nur sprach es niemand aus. Der Schein musste gewahrt werden.
»In der Tat«, sagte Grigori. »Trotzdem … Ich werde es erwähnen, wenn ich das nächste Mal die Gelegenheit habe, mit dem Genossen Generalsekretär zu sprechen. Vielleicht will er es sich ja mal genauer ansehen.«
»Das hoffe ich«, sagte Zoja. »Wir wollen den Westen endlich abhängen.«
»Und wie sieht es nach der Arbeit aus, Zoja?«, fragte Grigori fröhlich. »Haben Sie einen Freund oder Verlobten?«
»Vater!«, protestierte Anja. »Das geht dich nichts an.«
Doch Zoja schien die Frage nichts auszumachen. »Nein, es gibt keinen Verlobten«, sagte sie, »und auch keinen Freund.«
»Dann sind Sie ja genauso schlimm wie mein Sohn Wolodja hier!«, rief Grigori fröhlich. »Er ist dreiundzwanzig, gebildet, groß und gut aussehend, und trotzdem ist er immer noch alleinstehend.«
Wolodja zuckte ob dieses Winks mit dem Zaunpfahl unwillkürlich zusammen.
»Das ist kaum zu glauben«, sagte Zoja. Als sie Wolodja anschaute, sah er einen Hauch von Belustigung in ihren Augen.
Katherina legte ihrem Mann die Hand auf den Arm. »Es reicht«, sagte sie. »Bring das arme Mädchen doch nicht in Verlegenheit.«
Es klingelte an der Tür.
»Schon wieder?«, fragte Grigori.
»Also, diesmal habe ich keine Ahnung, wer das sein könnte«, sagte Katherina, als sie die Küche verließ.
Kurz darauf kehrte sie mit Wolodjas Vorgesetztem, Major Lemitow, wieder zurück.
Erschrocken sprang Wolodja auf. »Guten Abend, Genosse Major. Das ist mein Vater, Grigori Peschkow. Vater, darf ich dir Major Lemitow vorstellen?«
Lemitow salutierte stramm.
»Stehen Sie bequem, Genosse«, sagte Grigori. »Setzen Sie sich, und nehmen Sie sich Huhn. Hat mein Sohn etwas falsch gemacht?«
Das war genau die Frage, die Wolodjas Hände zittern ließ.
»Nein, Genosse, im Gegenteil«, antwortete Lemitow. »Aber ich habe gehofft, kurz mit Ihnen beiden zusammen sprechen zu können.«
Wolodja entspannte sich ein wenig. Vielleicht steckte er ja doch nicht in Schwierigkeiten.
»Wir sind gerade mit dem Essen fertig«, sagte Grigori und stand auf. »Gehen wir in mein Arbeitszimmer.«
Lemitow blickte Ilja an. »Sagen Sie mal, sind Sie nicht vom NKWD ?«
»Ja. Und ich bin stolz darauf. Ich heiße Dworkin.«
»Dann sind Sie also der Mann, der versucht hat, heute Nachmittag Wolodja zu verhaften.«
»Ich hatte den Eindruck, dass er sich wie ein Spion verhielt, und damit hatte ich ja auch recht, nicht wahr?«
»Sie haben offensichtlich noch nicht gelernt, unsere Spione von denen des Feindes zu unterscheiden«, entgegnete Lemitow und verließ die Küche.
Wolodja grinste. Das war nun schon das zweite Mal,
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