Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
für mich einmal das Wichtigste auf der Welt, aber heute ist es anders. Offenbar werde ich alt.«
Sie hatte noch einen anderen Grund gehabt, London zu verlassen, aber den wollte sie Lloyd nicht anvertrauen.
»Ich habe Sie mir in Schwesternkleidung vorgestellt«, sagte er.
»So weit kommt es noch! Ich verabscheue kranke Menschen. Aber ehe Sie mich wieder mit Ihrer Miene der Missbilligung bedenken, sehen Sie sich lieber das hier an.« Sie reichte ihm das gerahmte Foto, die sie mitgebracht hatte.
Stirnrunzelnd musterte Lloyd das alte Bild. »Woher haben Sie das?«
»Ich habe es in einem Karton mit alten Bildern in der Abstellkammer unten im Keller gefunden.«
Es war ein Gruppenfoto, aufgenommen an einem Sommermorgen auf dem Ostrasen von Tŷ Gwyn. In der Mitte stand der junge Earl Fitzherbert mit einem großen weißen Hund zu seinen Füßen. Das junge Mädchen neben ihm war vermutlich seine Schwester Maud, der Daisy nie begegnet war. Zu beiden Seiten hatten sich vierzig oder fünfzig Männer und Frauen in verschiedenen Dienstbotenmonturen aufgestellt.
»Achten Sie auf das Datum«, sagte Daisy.
»Neunzehnhundertzwölf«, las Lloyd laut vor.
Sie schaute ihn an, studierte seine Reaktion auf das Foto. »Ist Ihre Mutter auf dem Bild?«
»Meine Güte, das könnte sein!« Lloyd schaute sich die Gesichter genauer an. »Ich glaube, das hier ist sie«, sagte er schließlich.
»Zeigen Sie mal.«
Lloyd deutete darauf. »Hier, sehen Sie?«
Daisy sah ein schlankes, hübsches Mädchen von ungefährneunzehn Jahren mit lockigem schwarzem Haar unter dem weißen Häubchen eines Hausmädchens. In ihrem Lächeln lag mehr als nur ein Anflug von Schalkhaftigkeit. »Sie ist wirklich bezaubernd.«
»Damals war sie es auf jeden Fall«, erwiderte Lloyd. »Heutzutage bezeichnen die Leute sie eher als beeindruckend.«
»Haben Sie Lady Maud jemals kennengelernt? Glauben Sie, sie ist die Frau neben Fitz?«
»Ich kenne Lady Maud, seit ich ganz klein war. Sie und meine Mutter waren Suffragetten. Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit ich 1933 Berlin verlassen habe, aber sie ist eindeutig die Frau auf diesem Bild.«
»Sehr hübsch war sie nicht.«
»Mag sein, aber sie hält sich sehr gut und kleidet sich großartig.«
»Wie auch immer – ich dachte, Sie möchten das Foto gern haben.«
»Ich soll es behalten?«
»Ja, sicher. Niemand sonst will es. Deshalb lag es ja in einer Schachtel im Keller.«
»Vielen Dank!«
»Gern geschehen.« Daisy ging zur Tür. »Und jetzt wieder an die Arbeit.«
Als sie die Hintertreppe hinunterstieg, hoffte sie, nicht unbewusst mit Lloyd geflirtet zu haben. Vielleicht wäre es besser gewesen, ihn gar nicht erst aufzusuchen, aber sie hatte ihm eine Freude machen wollen. Der Himmel bewahre, dass Lloyd es falsch verstand.
Ein plötzlicher Stich durchzuckte Daisys Bauch. Sie blieb auf dem Treppenabsatz stehen. Den ganzen Tag schon hatte sie leichte Rückenschmerzen, die sie auf die billige Matratze zurückführte, auf der sie schlief, aber der Stich hatte eindeutig andere Ursachen. Daisy überlegte, was sie gegessen hatte, aber ihr fiel nichts ein, wovon man krank werden konnte: kein halb gares Hähnchen, kein unreifes Obst. Austern hatte sie auch nicht verzehrt – das wäre schön gewesen! Dann aber verebbte der Schmerz so schnell, wie er gekommen war, und Daisy hatte ihn bald vergessen.
Sie kehrte in ihre Räume im Untergeschoss zurück. Es war die ehemalige Wohnung der Haushälterin: ein kleines Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, eine kleine Küche und ein brauchbares Bad mitWanne. Ein alter Diener namens Morrison fungierte als Hauswart, und eine junge Frau aus Aberowen war Daisys Dienerin. Sie hieß Little Maisie Owen, obwohl sie ziemlich groß war. »Meine Mutter heißt auch Maisie, deshalb tun die Leute mich Little Maisie nennen, obwohl ich größer bin wie sie«, hatte das Mädchen erklärt.
Das Telefon klingelte, als Daisy hereinkam. Sie nahm ab und hörte die Stimme ihres Mannes. »Wie geht es dir?«, fragte er.
»Danke, gut. Wann kommst du hier an?« Boy war mit einem Auftrag seiner Vorgesetzten zum RAF St. Athan geflogen, einem großen Fliegerhorst außerhalb von Cardiff; er hatte versprochen, Daisy zu besuchen und die Nacht auf Tŷ Gwyn zu verbringen.
»Ich fürchte, aus dem Besuch wird nichts. Auf dem Stützpunkt findet ein Offiziersbankett statt, an dem ich teilnehmen muss.«
Er klang nicht allzu enttäuscht, dass er Daisy nicht sehen konnte, und sie fühlte sich verschmäht. »Wie schön
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