Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
von den vorbeimarschierenden Gefangenen verwehrt. An der Spitze der Fahrzeugschlange sah Lloyd einen zivilen Lastwagen mit offener Ladefläche. Der Wagen war schmutzig und verbeult. Offenbar gehörte er einem Bau- oder Straßenarbeiter. Doch Lloyd konnte nicht auf die Ladefläche schauen; dafür waren die Seitenwände zu hoch.
Konnte er aus der Kolonne schlüpfen und rasch auf die Ladefläche klettern? War er erst einmal oben, konnte ihn von der Straße aus niemand mehr sehen, auch nicht die Wachen auf ihren Fahrrädern. Aber für jemanden, der über ihm aus einem Fenster schaute, wäre er deutlich zu sehen. Würden diese Leute ihn verraten?
Lloyd näherte sich dem Lkw.
Rasch blickte er über die Schulter. Die nächste Wache war gut zweihundert Meter hinter ihm.
Er schaute nach vorn. Zwanzig Meter vor ihm radelte ein Deutscher.
Lloyd sagte zu dem Mann neben sich: »Halten Sie das mal für mich, ja?«, und gab ihm seine Jacke.
Dann war er auf gleicher Höhe mit dem Lastwagen. Am Radkasten lehnte ein gelangweilt aussehender Mann in Arbeitskleidung und mit Barett, eine Zigarette zwischen den Lippen. Lloyd ging an ihm vorbei. Jetzt war er auf Höhe der Ladefläche. Er hatte keine Zeit mehr, noch einmal nach den Wachen zu sehen.
Ohne eine Sekunde innezuhalten, packte Lloyd die Seitenwand, zog sich hoch und ließ sich auf die Ladefläche fallen. Er prallte mit einem dumpfen Laut auf, der ihm trotz des Lärms der tausend Stiefel unglaublich laut vorkam. Sofort drückte er sich flach auf die Ladefläche, rührte sich nicht und lauschte auf das Brüllen einer deutschen Stimme, das Knattern eines heranjagenden Motorrads oder den Knall eines Gewehrschusses.
Stattdessen hörte er das Tuckern des Lkw-Motors, das Schlurfen der Gefangenen und die Hintergrundgeräusche der kleinen Stadt und ihrer Bewohner. Hatte er es geschafft?
Lloyd schaute sich um, wobei er sich tief geduckt hielt. Neben ihm lagen Eimer, Bretter, eine Leiter und eine Schubkarre. Eigentlich hatte er auf ein paar Säcke oder Decken gehofft, unter denen er sich hätte verstecken können.
Lloyd hörte, wie ein Motorrad näher kam. Es schien nicht weit von ihm zu halten. Dann, nur wenige Meter von ihm entfernt, sprach jemand Französisch mit starkem deutschem Akzent. »Wo wollen Sie hin?« Es war die Stimme eines Wachsoldaten, der mit dem Lkw-Fahrer sprach. Lloyd schlug das Herz bis zum Hals. Würde der Deutsche auf die Ladefläche schauen?
Lloyd hörte, wie der Fahrer antwortete. Seine Entrüstung war ihm deutlich anzuhören, doch er sprach so schnell, dass Lloyd ihnnicht verstehen konnte. Der deutsche Soldat schien den Fahrer ebenso wenig verstanden zu haben, denn er wiederholte seine Frage.
Zufällig hob Lloyd den Blick und sah zu seinem Entsetzen zwei Frauen an einem Fenster hoch über der Straße. Sie starrten auf ihn hinunter, die Münder vor Erstaunen aufgerissen. Eine der beiden zeigte auf ihn.
Lloyd suchte Blickkontakt mit der Frau. Dann wedelte er mit der Hand, schüttelte energisch den Kopf und bedeutete ihr: »Nicht auf mich zeigen!«
Die Frau verstand. Rasch zog sie den Arm zurück und schlug stattdessen die Hand vor den Mund, als wäre ihr jetzt erst bewusst geworden, dass es für den Mann da unten das Todesurteil bedeuten konnte, wenn sie auf ihn zeigte. Aber noch war die Gefahr nicht gebannt, denn die Frauen starrten noch immer zu ihm hinunter.
Dann schien der Deutsche auf dem Motorrad zu der Einsicht zu gelangen, dass eine weitere Befragung des Fahrers sinnlos war. Einen Augenblick später fuhr das Motorrad knatternd davon.
Das Geräusch der marschierenden Gefangenen verhallte in der Ferne. Die Kolonne ließ die Stadt hinter sich. Lloyd hielt den Atem an. War er frei?
Plötzlich krachte die Kupplung des Lastwagens, und er setzte sich in Bewegung. Lloyd spürte, wie er um die Ecke bog und beschleunigte. Er rührte sich nicht. Angst hatte ihn gepackt.
Atemlos beobachtete er die Gebäude, an denen sie vorbeifuhren. Angespannt hielt er nach Leuten Ausschau, die an den Fenstern standen und ihn entdecken konnten, ohne zu wissen, wie er in einem solchen Fall reagieren sollte. Immerhin entfernte er sich mit jeder Sekunde weiter von den Wachsoldaten. Wenigstens das war ermutigend.
Zu seiner Enttäuschung hielt der Lkw ziemlich bald an. Der Motor wurde abgestellt, der Fahrer stieg aus. Dann … nichts. Lloyd lag noch eine Zeit lang still auf der Ladefläche, aber der Fahrer kam nicht zurück.
Lloyd schaute zum Himmel. Die Sonne stand hoch.
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